Wie lässt sich der Sündenfall noch sühnen?

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Kreuzigung am Lebensbaum, um 1320, Zisterzienserabtei Wilhering, Österreich Detail). Bild: akg
Kreuzigung am Lebensbaum, um 1320, Zisterzienserabtei Wilhering, Österreich Detail). Bild: akg

Kirchengeschichte leidenschaftlich als Zusammenspiel der Denker und Zweifler erklärt

Welches Gottesbild habe ich? Das hat auch direkte Folgen für den Blick auf die Sünde der Menschen. Über Jahrhunderte hinweg beschäftigten diese Fragen die größten theologischen Denker, erklärt die Bochumer Kirchengeschichtlerin Katharina Greschat in ihrem aktuellen Lehrwerk „Kirchengeschichte I“. 

Trotzdem gelingt es ihr, das Grundwissen zur Kirchengeschichte bis zum Hochmittelalter auf knapp 400 Seiten zusammen zu fassen. Es ist Prüfungswissen für Theologen. Doch kommt es dem Lehrwerk ausdrücklich nicht darauf an, dass die Lesenden alle Fakten lernen. Nein, sie sollen Zusammenhänge verstehen, um sich mit der Vielfalt des Christentums und seinen Erscheinungsformen auseinandersetzen zu können. Beispiel Sünde und Sühne zur Passionszeit: Durch die Jahrhunderte hindurch haben Menschen mit ihren Verfehlungen und ihrem Gottesverständnis gerungen.

Sünde als Abkehr von Gott

Zum Sündenverständnis waren lange die Traditionen des Kirchenvaters Augustin (356–430) prägend: Sie haben direkte Auswirkungen auf sein Verständnis der Passion Jesu. Der zwischen Sünde und göttlicher Gnade lebende Mensch wird durch das Leiden und Sterben Christi freigekauft (vgl. auch Mk 10, 45).

Den Sündenfall Adams und Evas verstand Augustin als „willentliche Abwendung von Gott“, so Greschat. Deren Schuld verursache, dass alle Menschen notwendigerweise und chronisch sündigen. Das Heil, zu dem uns Gott zurückführen will, ließe sich erst „nach dem Ende der Welt in der Ewigkeit“ erreichen.

Bevor Augustin Christ wurde, war er Manichäer: Die totale Unterscheidung zwischen dem Guten, der immateriellen göttlichen Macht, und der bösen Schöpfung ist für diese Glaubensrichtung prägend. Sein Bekehrungserlebnis gewann leidenschaftliche Bedeutung für Augustin – auch in seinen Schriften.

Wenn ein Mensch in der Nachfolge dem „Ruf seines Schöpfers Folge leistet, dann tut er es nicht aufgrund seines eigenen Verdienstes“ durch die Gnade Gottes, der nicht alle Menschen ihrem sündigen Los überlassen will. Dem Heilshandeln des Gottessohnes musste aber „unbedingt der Abstieg, d. h. die Menschwerdung Gottes vorangehen, der die in Sünde gefallenen Menschen unbedingt retten wollte“, erklärt Greschat. 

Die Ehre Gottes retten

Einen weiteren Akzent setzte Jahrhunderte später Anselm von Canterbury (1033–1109): Das Bild des Loskaufs war für ihn nicht mehr verständlich. Der Teufel hat auf nichts und niemanden Rechtsansprüche. Allein auf das direkte Verhältnis zwischen Gott und Mensch kommt es an. 

Dabei haben Menschen sich selbst durch ihre schwerwiegende Schuld durch die Erbsünde in eine furchtbare Gottesferne hineinmanövriert. Dies führt zur Verletzung Gottes, der eine ganz andere Ordnung mit seiner Schöpfung in die Welt bringen wollte. Der menschliche Ungehorsam entwürdigt und entehrt ihn – schließlich erscheint er für Anselm im Denken seiner Zeit als unendlich großer Lehnsherr. 

In dieser Entehrung Gottes geschehe eine fundamentale Erschütterung der Weltordnung – wobei „die Sünde zu einer massiven Störung des Gottesverhältnisses und der gesamten Schöpfungsordnung geführt habe“, so Greschat zusammenfassend. Damit missbraucht der Mensch das Geschenk seiner Freiheit. Für diese Ehrverletzung benötigt Gott eine Wiedergutmachung. 

Und diese muss ausreichend groß sein – schließlich ist die gesamte Weltordnung gestört und außer Gleichgewicht geraten. Eine solche Kompensation würde zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen – so groß ist nach Anselm der Rechtsanspruch Gottes darauf, obwohl er durch den Sündenfall nicht direkt beleidigt wurde. Ein einfacher Erlass der Strafe widerspräche seiner Gerechtigkeit und würde ebenfalls nicht wieder das Chaos ordnen.

Doch wäre nicht auch eine Wiedergutmachung durch eine menschliche Buße möglich? Anselm hält das für ausgeschlossen: Gottes Verletzung ist zu groß für Menschen – nur Gott selbst ist „dazu in der Lage“. Nur der freiwillige Tod des Gottessohns Jesu reicht als unendliche Genugtuung Gottes aus. 

Anselms Bilder und ihre Begriffe bestimmen bis heute Lieder, Gebete und Texte auch der evangelischen Kirche. Sie halten zudem den biblischen Gedanken wach, dass die Abwendung von Gott, die Sünde, keine zu vernachlässigende Größe ist: Gibt es nicht auch fürchterliche sündhafte Verstrickungen der Menschen? Dies etwa zur Zeit des Dritten Reiches, aus der fast niemand schuldlos herausgehen konnte? 

Erst durch Jesus und vor allem sein Leiden und Sterben lässt sich „die göttliche Schöpfung doch noch zu ihrem Ziel führen“, so Greschat. Die „himmlische Stadt“ wird vollendet. Auch das sei kaum zufällig ein Bild, das Anselm von Augustin übernommen hat, dem er „auf kreative Art und Weise“ nähersteht als er wohl selbst wahrhaben will.

Christen haben in dieser Welt keine wirkliche Heimat, so bereits Augustin in seinem Werk „Über die Gottesstadt“. Daher sei etwa eine Katastrophe wie die Zerstörung Roms durch die Goten durchaus im Sinne Gottes. Christus ist der Mittelpunkt der Geschichte. „Die weltliche Geschichte ist vielmehr als Ganze aufgehoben und eingezeichnet in die so viel größere Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung, … die ihr Ziel erst in der jenseitigen Welt finden wird.“ So wurde der Kirchenvater auch prägend für das mittelalterliche Geschichtsverständnis.

Rechtfertigung Luthers

Und durch seine Paulus-Interpretation gewann Augustin bekanntlich große Auswirkungen auf Luthers Rechtfertigungslehre, zu der Greschat ebenfalls einen Bogen spannt: Erst die Verleihung des göttlichen Geistes befähige den Menschen innerlich, das göttliche Gesetz tatsächlich halten zu können. Ohne die Gabe des Geistes wäre das Gesetz also nichts anderes als ein tötender Buchstabe. Letztlich ist es also Gott selbst, der im Inneren des Menschen wirkt und ihn auf das Göttliche hin ausrichtet. Erst diese Erfahrung vermag den Menschen aus seiner existenziellen Angst zu reißen und aus der Erfahrung seiner Schuld
zu befreien. 

Durch Tod und Auferstehung hat Jesus die Macht der Schuld überwunden. Dazu muss, wie Luther betont, in Jesu Leben und Sterben Gott selbst in der „Waagschüssel“ liegen und nicht nur ein Mensch die Sühne vollbringen – aber da sind wir bei weiteren antiken Diskussionen um das Wesen Gottes und das Zusammenspiel der Dreieinigkeit – ein neues Kapitel.

Katharina Greschat: Kirchengeschichte I: Von der Alten Kirche bis zum Hochmittelalter. In: Lehrwerk Evangelische Theologie 3. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2023, 394 S., ISBN 978-3-374-05482-4, 48 Euro. 

https://www.ekd.de/III-2-Vorreformatorische-Lehrtraditionen-492.htm und folgendes Kapitel zu Luther.