Philipp Nicolai als konfessioneller Glaubensstreiter – und Dichter unsterblicher Lieder
Glaubensstreiter und Dichter mystischer Gesangbuchlieder: Geht das zusammen? Bei Philipp Nicolai vor mehr als 400 Jahren offenbar vollkommen bruchlos. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147), schrieb und komponiert er. Ebenso stammt das Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (EG 70) von ihm. Gleichzeitig bekämpfte er massiv die Lehren anderer Konfessionen.
„Wachet auf“, rief er inmitten der dunkelsten Zeiten seiner Gemeinde zu: Pfarrer Philipp Nicolai musste täglich mehrere Dutzend Gemeindemitglieder beerdigen. Ende des 16. Jahrhunderts grassierte die Pest nicht nur in seiner Gemeinde in Unna. „Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig / von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig / ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf“, so lautete Nicolais Gegenbotschaft in dieser dunklen Zeit.
Auch sein zweites Lied, das die Zeiten überdauert hat, das „Wie schön leuchtete der Morgenstern“ ist von Hoffnung durchdrungen. Der Herr wirft trotz der verheerenden Pestzeit seinen freundlichen Blick auf den Menschen, der ihn wiederum in Wort und Sakrament (Strophe 4) antwortet. Die Freude über die bräutliche Vereinigung (Strophe 5) mündet in die Musik, die sich in Saitenspiel, Gesang, Tanz und triumphalem Jubel artikuliert (Strophe 6). Sie blickte direkt auf die endzeitliche Vollendung in der 7. Strophe (vergleiche Offb 22, 20) hin.
Kein Muster der Toleranz
Dabei hatte Nicolai offenbar nicht den einfachsten Charakter. Er erblickte 1556 in Mengeringhausen in Nordhessen das Licht der Welt. Von seiner ersten Pfarrstelle im westfälischen Herdecke vertrieben ihn spanische Söldner. Bald predigte er in der lutherischen Untergrundgemeinde im katholischen Köln.
Doch Nicolai gelang nach dieser ungestümen Jugendzeit auch eine offizielle Karriere: Ab Oktober 1588 war er Hofprediger und als Erzieher des Grafen Wilhelm Ernst von Waldeck in Alt-Wildungen knapp 40 Kilometer südlich seines Geburtsortes.
1596 finden wir ihn als Pfarrer in der westfälischen Stadt Unna. Sein Vorgänger Joachim Kerstin war ein Opfer der Pest geworden. Und Nicolai ließ auf dessen Grabstein verewigen: „In diesem Grabe ruht jener unerschrockene Wächter, der aus diesem Gotteshause die wütenden Wölfe heraustrieb, der die versprengten Schafe zurückführte und die Kirche wieder säuberte und seine Herde in heilbringendem Gottesdienst auf die Weide führte.“
So zeigte sich Philipp Nicolai deutlich als ein konsequenter Verteidiger des Luthertums inmitten des tiefsten konfessionellen Zeitalters. Doch gegen seinen mächtigsten Gegner, die Pest, fand er andere Töne und schrieb 1599 den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“. Darin veröffentlichte er seine beiden berühmten Kirchenlieder. Sie zeigen ihn so voller innerlicher, mystischer Frömmigkeit. Später krönte er seine Laufbahn als Hauptpastor an Sankt Katharinen in Hamburg. Dort starb er 1608.
In seiner Kunstfertigkeit war er aber auch ein Kind seiner Zeit: Selbst das Strophenschema beim „Morgenstern“ ist ungewöhnlich und komplex: Auf lange Zeilen folgen kurze. Die Strophen beginnen mit Achtsilbern und gehen dann bis auf Zwei- und Viersilber herunter, worauf dann wieder ein abschließender Achtsilber folgt. Viele der kurzen Zeilen beinhalten Ausrufe wie „Hosianna“, „Eia“, „Singet“, „Jubilieret“, „Amen“ und bekräftigen so die Vorstellungen über Gott im Echo der Gemeinde eindrücklich. Für uns ungewöhnlich – damals erschien es besonders feierlich.
Immer wieder fiel auf, dass dieses komplizierte Zeilenschema im zentrierten Drucksatz das Bild eines Kelches ergibt. Dies Bild kehrt in der 4. Strophe ausdrücklich wieder: „Dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut / Mich innerlich erquicken“. Der Erstdruck verwendet diese zentrierte Druckform jedoch nicht. So ist unsicher, ob Nicolai es vor Augen hatte.
Er verwob auch andere Motive, etwa aus dem Psalm 45 oder dem Hohelied und konzipierte den Choral als mystisches Brautlied. Der „Morgenstern“ als Bild für Jesus begegnet in Offenbarung 22, 16.
Aufgeweckte Jungfrauen
Ähnlich überirdische Freude findet sich im „Wachet auf“. Die Hochzeit des Messias mit Zion und der gläubigen Seele gehört im Judentum und im Christentum zu den mystischen Auslegungen des Hohelieds.
Das Lied deutet das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25, 1–13) sowie den Weckruf Jesajas (52, 8) aus. Alle zehn Jungfrauen reagieren in dem Lied erwartungsvoll auf den Weckruf – der Blick auf die törichten Mädchen fehlt gänzlich. Das Kommen des Bräutigams steht im Mittelpunkt, kombiniert mit einem dichten Geflecht von Bildern aus Psalmen, Propheten und auch Motiven des Neuen Testaments. Wie im Hohelied bewegen sich Braut und Bräutigam intensiv aufeinander zu. Am Ende der zweiten Strophe begegnen sie sich im „Freudensaal“ , dessen Wonnen nun weiter zu besingen sind.
Die eindrückliche aber in ihren vielen Höhen und Tiefen herausfordernde zu singende Melodie stammt wohl von Nicolai selbst – doch ist über seine musikalische Ausbildung nichts bekannt. Johann Sebastian Bach schuf dazu einen Choralsatz.
Modernisierung hilfreich?
Schon während der Aufklärungszeit gab es viele bereinigte Fassungen beider Lieder, so dass die ursprünglichen Formen erst wieder mühsam wiederhergestellt werden musste. Besonders die dritte Strophe des „Wachet auf“ wurde dabei verändert: Die Sprache galt schon damals als zu altmodisch. Die verzückten Ausrufe erschienen als nicht mehr zeitgemäß. Es heißt nun nüchterner: „Des jauchzen wir und singen dir / das Halleluja für und für“. Es wird alljährlich nach lutherischer Tradition an einem bestimmten Tag im Kirchenjahr gesungen: am Ewigkeitssonntag. Die von Nicolai so bekämpften Katholiken ordnen es in der Adventszeit ein, das geschah aber auch in früheren Evangelischen Gesangbüchern.
Hingegen erscheint das Lied vom „Morgenstern“ heute im Kirchenjahres-Zyklus als Epiphanias-Lied: Da fällt der Bezug zum Offenbarungs-Geschehen am Ende, in dem die Seele ins Paradies gelangt, gedanklich meist weg. Die Strophen entfalten die liebende Zuwendung zum Christus-Bräutigam, zur „Krone“ der Freude als wertvollster Edelstein, als „Freudenschein“ und „starker Held“. Solche Zuversicht überwindet das tiefste Elend.
Hansjakob Becker u.a. (Hg.): Geistliches Wunderhorn. Große dt. Kirchenlieder. Beck-Verlag 2001, ISBN 978-3-406-48094-2 (Seiten 146–176 von Hermann Kurzke und Ansgar Franz).