Aufbruch aus dem Schneckenhaus

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Gewinnen die ausgestreckten Fühler einen neuen Überblick? Wohin zieht es sie? Foto: pixabay
Gewinnen die ausgestreckten Fühler einen neuen Überblick? Wohin zieht es sie? Foto: pixabay

Lebenslinien: Wie eine Frau in der Lebensmitte ihr inneres Schneckenhaus überwindet

„Als wenn mein Gehirn überflutet ist“, so empfindet es Anna (Name geändert, sie ist aber der Redaktion bekannt). Dann strömen zu viele Reize auf sie ein oder sie ist von den Reaktionen ihrer Umwelt überfordert. Seit kurzem hat die Mitfünfzigerin einen Namen für das, was da in ihr geschieht. Denn zufällig hatte sie einen Beitrag des Fernsehsenders Arte verfolgt. Darin ging es um Krankheiten, die bei Frauen unterschätzt sind, da sie ganz andere Symptome zeigen als bei Männern. Beim Herzinfarkt etwa. Anna aber ging es um etwas anderes: In dem Bericht kam eine Frau zu Wort, die sich gegen Depressionen und Burn-out behandeln ließ – erfolglos. Nach langen Jahren kam heraus, dass dies auch kein Wunder war, schließlich lag der Grund ihrer Erschöpfungszustände ganz woanders: ADHS. 

„Zappelphilipp“ zu sein, das ist eine Krankheit für dumme Jungs! Und Anna wirkt eher sehr beherrscht, kühl, willensstark auf ihre Umgebung. Aber ein inneres Hintergrundrauschen tief in ihr gerät oft mal in Turbulenzen. Die Worte der Frau im Film berührten ihre Seele tief: Ich bin nicht allein, so klang es in ihr wieder. Endlich spricht jemand das aus, was ich empfinde!

Mädchen und Frauen gelingt es mit dieser Krankheit eher, sich gesellschaftlich anzupassen. Doch: „Wenn ich nicht ganz genau aufpasse, entgleitet mir das geordnete Leben“, weiß auch Anna. Dabei hat sie ihr Studium erfolgreich beendet und arbeitet in einem Beruf, der ihr ein hohes Maß an Selbstorganisation abfordert. Dennoch hat sie fortwährend das Gefühl, unter ihren Möglichkeiten geblieben zu sein. 

Eine Kleinigkeit, die nicht an ihrem Platz liegt und gesucht werden muss, stellt es für Anna in Frage, das Leben im Griff zu haben. Die Kontrolle zu verlieren – das ist so schambesetzt für Anna. „Das erste Mal erlebte ich es im Kindergarten“, erinnert sie sich. Dabei war diese Erinnerung lange tief in ihr verschüttet. Erst als sie einen Namen für ihr Verhalten fand, konnte sie ihrem früheren Ich als kleines Mädchen wieder begegnen: „Wir konnten etwas aus Ton formen. Ich war so glücklich damit. Und dann folgte die entsetzte Reaktion der Kindergärtnerin. Ich war total verdreckt, ohne dass ich es gemerkt hatte. Sie stellte mich vor allen anderen Kindern bloß: Schließlich war ich die Einzige, die ‚mal wieder‘ nicht ordentlich gewesen war. Aber ich wollte es doch nicht. Es ist mir einfach passiert.“ Nie mehr machte es ihr Spaß, mit Ton zu formen.

Ausgerechnet mitten in der Pubertät, mit etwa 13 Jahren, traf sie eine Entscheidung. An den genauen Tag erinnert sie sich natürlich nicht mehr, wohl aber an das Bild, das sich ihr bot: Wieder einmal war so viel Unordnung in ihrem Bücherregal entstanden. „Da traf ich eine Entscheidung: Ich will das nicht mehr. Bevor die Ordnung mir entgleitet, muss ich mehr aufpassen als andere.“ So geschah es. 

Kontrolle statt Überblick

Doch dafür zahlte sie einen hohen Preis: Mit den Jahren stieg der Hang zu zwanghaften Verhaltensweisen: „Gerade vor dem Wegfahren muss ich immer wieder kontrollieren, ob der Herd und das Bügeleisen ausgeschaltet sind. Ob alle Fenster zu sind und vor allem der Kühlschrank“, berichtet sie. Und weiter: „Hoffentlich verstärkt sich das nicht noch, so dass ich es jeden Morgen immer und immer wieder kontrollieren muss, bevor ich zur Arbeit loskomme.“ Seitdem sie jetzt den Grund dafür entdeckt hat, beginnt sie bei Kleinigkeiten bewusst loszulassen. „Bisher ist noch keine Katastrophe dabei eingetreten“, erklärt sie stolz. 

Langsam lernt sie, aus einer Situation herauszugehen, bevor sich ihre Wahrnehmungen vollständig verengen. „Anstatt ewig zu suchen, mache ich etwas anderes. Dann fällt mir ein, in die Schublade daneben zu schauen – und da ist das Gesuchte dann.“ Gerade Bewegung hilft ihr, das Gehirn zu entknoten.

„Aber die Krankheit macht einsam“, weiß sie. Denn bei Überflutung mit sozialen Signalen, die für sie zu viel sind, vielleicht bei uneindeutigen Formen der Kommunikation – da verknotet sich ebenfalls das Gehirn. Es setzt Assoziationsketten in Gang, die für andere nicht unbeding nachvollziehbar sind. „Von außen scheint es, als wenn ich mir nur ein Detail herausgepickt hätte, anstatt der gesamten Interaktion. Doch bin ich nicht zerstreut, sondern meine Aufmerksamkeit bleibt daran hängen.“ Gerne auch verzögert, während andere schon mental weiter sind. Vielleicht ein Filter? 

Dann fühlt sich Anna umso weniger verstanden oder wertgeschätzt – und reagiert schnell überreizt. Sie führt Abwehrkämpfe „wie eine Schnecke ihr Haus verschließt“. Die Umwelt reagiert umso irritierter.

Es entstehen ungute Spiralen, die sich negativ verstärken. „Bisher war ich, solange ich denken kann, von einer grundsätzlich feindlichen Umwelt ausgegangen, die auf meinen Nerven herumtanzte und gegen die ich mich behaupten muss“, so Anna. „Meine Herkunftsfamilie hat mir immer Steine in den Weg gelegt, so dachte ich, und mich zumindest unabsichtlich depressiv geprägt.“

Selbst ihre gescheiterte Beziehung war davon betroffen. „Wir zerfleischten uns regelrecht im Streit. Er war sicher noch labiler als ich, trotzdem wollte ich von ihm, dass er mir Halt gab.“ Durch diese gescheiterte Beziehung schweren Abschied, oder auch infolge der Wechseljahre wurde sie bitterer, sarkastischer.

Gerade dann, wenn sie emotional überflutet wird, hat sie das dringendste Bedürfnis, von anderen verstanden zu werden. „Statt langatmiger Erklärungen, in die ich mich flüchte, brauche ich dann Sandsäcke vor meinem inneren Kellerfenster, um die Überflutung aufzuhalten. Oder muss über eine Neukonstruktion des Fensters, wenn nicht des ganzen Kellers nachdenken“, um die Überreizung auszusperren. „Stattdessen muss ich hinterher meinen inneren Keller mit dem mitgeführten Schlamm mühsam trocknen und ärgere mich umso mehr darüber.“

So steht sie sich selbst im Weg: „Mein Gehirn verknotet sich gerade dann, wenn ich unter Stress gerate“, beobachtet sie. Sie empfindet sich selbst als linkisch, gerade in Situationen, die für sie wichtig sind. Sie verkrampft innerlich. Keine guten Voraussetzungen für Bewerbungsgespräche oder Dates. 

„Es ist manchmal so ungerecht, dass mir alles schwerer fällt als anderen. Aber auch die ständige unterdrückte Wut und das Genervtsein sind fehlende Botenstoffe im Köper.“ Gleichzeitig liegt in ihren vielleicht ungewöhnlichen Assoziationsketten ein ungeheures kreatives Potential. Und auch darin, dass sie sich auf geringfügige Aspekte intensiv fokussieren kann – nur die Überflutungen wären zu überwinden, genau wie die Überkompensierung durch so viel Kontrolle. Daran arbeitet sie. 

„Ich hätte mir so gewünscht, die Ursachen früher erfahren zu haben!“ Weniger Irritationen und Versagensgefühle hätten sie bestimmt. „Besonders traurig, dass ich manche Mitmenschen unnötig vergrault habe.“ Doch schließt sie: „Langsam wie eine Schnecke lerne ich endlich zu leben.“