„Grundgesetz der Menschheit“ – für alle?

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Die UN-Vollversammlung bei der Verabschiedung der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Foto: pa
Die UN-Vollversammlung bei der Verabschiedung der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Foto: pa

75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: christliche oder universelles Thema?

Auch Mahatma Gandhi sandte Vorschläge an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die ab Anfang 1947 tagte. Bei dieser epochalen Aufgabe führte Eleanor Roosevelt, die Witwe des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, den Vorsitz: Ihre Kommission sollte die erste international gültige Menschenrechts-Erklärung erarbeiten. Nach dem Leid des Zweiten Weltkrieges und der Nazigräuel war die Erkenntnis wichtig, dass alle Menschen einen Katalog mit unveräußerlichen Rechten brauchen. Neben Gandhi sandten auch einfache Menschen ihre Vorschläge dorthin. 

Gleichzeitig wurzelt diese Idee auch in biblischem Boden: Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat kommt jeder einzelnen Person eine besondere Würde zu. So leitete schon John Locke die Gleichheit der Menschen aus diesem Vers (1. Mose 1, 27) der Gottesebenbildlichkeitslehre ab.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung begründete die unveräußerlichen Menschenrechte, zu denen „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ gehören, ebenfalls religiös: Sie sind den Menschen von ihrem „Schöpfer“ (Creator) verliehen worden. Doch hatten die USA zunächst kein Problem mit der Sklaverei – ebenso wenig wie antike Gesellschaften in Rom oder Athen, die doch vorbildlich für die Ausbildung eines humanistischen Weltbildes erschienen.

Immanuel Kant leitete jedoch die Menschen- und Bürgerrechte aus weltlichen Vorstellungen der Philosophie her: Alle Menschen seien zu freien Entscheidungen sowie freiem Handeln fähig und so eine „moralische Persönlichkeit“: Damit haben sie auch entsprechende Würde.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird die Menschenwürde als „unantastbar“ vorausgesetzt. Die dortigen Eingangsworte, „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sind sehr nahe am Gottesbezug. Soweit die Vorstellungen im christlich, speziell im protestantisch geprägten Abendland. Konnte das auch für die gesamte Welt gelten – wie es die UNO-Menschenrechtserklärung beanspruchte? 

Erschwerend kam hinzu, dass 1947/48 bereits der Kalte Krieg begonnen hatte. Die Sowjetunion legte das Hauptaugenmerk auf soziale Menschenrechte: dass alle ein Recht auf Arbeit, Wohnung und gute Ernährung haben sollten – obwohl es praktisch auch in den sozialistischen Ländern an letzterem mangelte. 

Nach intensiven weiteren Beratungen ging der Entwurf der Menschenrechtserklärung im Juli 1948 an die UN-Vollversammlung. Jedes Wort wurde hin- und hergewendet. „Wir hatten eine schreckliche Zeit“, so Eleanor Roosevelt. 

Trotz aller Schwierigkeiten, vor 75 Jahren, am 10. Dezember 1948 kurz vor Mitternacht, war es so weit: Die Vollversammlung nahm die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit überwältigender Mehrheit an. Nur wenige Länder enthielten sich der Stimme, darunter die Sowjetunion und Saudi-Arabien. 

Menschenrechtler unterstreichen die epochale Bedeutung des Dokuments. Fachleute nennen die in rund 500 Sprachen übersetzte Erklärung die „Heilige Schrift der Menschenrechte“ oder das „Grundgesetz der Menschen“. Tatsächlich wird bereits der erste der insgesamt 30 Artikel der Erklärung von vielen Regierungen ignoriert: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Weitere Artikel reichen vom Recht auf Leben über ein Verbot der Sklaverei und ein Recht auf Arbeit, auf Bildung bis hin zur Religionsfreiheit. 

Viele Menschenrechte ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben. Allerdings hält Artikel 29 der Erklärung auch fest, dass jeder Mensch „Pflichten gegenüber der Gemeinschaft“ hat. Und dies umfassende Programm der Menschenrechte ist vielfach rechtlich unverbindlich. Viele Staaten, zumal das Heimatland Roosevelts, die USA, wollten es lieber bei einer Deklaration belassen, die ihnen keine Pflichten aufbürdet. 

1976 traten nun zwei besonders weitreichende Pakte zu den Menschenrechten in Kraft. Einen über bürgerliche und politische Rechte und den anderen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 

Universelle Geltung?

Nicht zufällig enthielt sich 1948 auch Saudi-Arabien bei der Abstimmung. Streng muslimische Staaten bestreiten öfter den allgemeingültigen Anspruch der Menschenrechte. Ist das ein westliches Propaganda-Instrument, um abendländische Ideen global durchzusetzen? 

Andere Exegeten des Koran setzen dagegen, dass auch Allah dem Menschen Würde verleihe. Der Islam sehe die Unverletzlichkeit der Person, Gleichberechtigung und Respekt gegenüber anderen Menschen und Religionen vor. 

Gerade der DITIB-Dialogbeauftragte der Türkei in Deutschland, Rafet Öztürk, entgegnete schon zum 70-jährigen Jubiläum: Der Orient und der Okzident hätten sich von den Griechen über die Araber zu den Westeuropäern ständig wechselseitig beeinflusst – die Menschenrechte hätten daher auch orientalische Wurzeln und seien wichtig für die gesamte Menschheit. 

Andere muslimische Kritiker würden die Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia, des Gottesrechts, stellen. Es gebe Muslime, die säkulare Vertreter oder Andersgläubige bedrohten oder töteten. 

Europäische Mächte haben mit ihren Werten zur Zeit des Kolonialismus massiv den Rest der Welt gestaltet und gleichzeitig unter dem Vorwand des Fortschritts oder der Verbreitung des Christentums andere Teile der Welt beglückt. Nun kritisieren sie vor allem bei ehemals kolonialisierte Völker, dass sie die
Menschenrechte nicht einhalten würden.

Gleichzeitig hat „der Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten ein Problem damit, Menschenrechte vornehmlich dort einzufordern, wo es den politischen Interessen entspricht. Vor anderen Menschenrechtsverletzungen verschließt er eher die Augen. Viele Konflikte scheinen von der weltweiten Öffentlichkeit vergessen zu sein. Was etwa ist mit Rechten für Geflüchtete?

Diese Probleme gilt es aufzuarbeiten. Dennoch bleibt die universale Idee – auch ihre Begründung durch die Gottesebenbildlichkeit aller – der Menschenrechte unverzichtbar. Sie können nicht nur für einen Kontinent gelten. Der Missbrauch hebt ihren Anspruch gegenüber allen Menschen nicht auf – was auch Gandhi wahrnahm. Doch die Schattenseiten gilt es auszuarbeiten – und unter Gottes Anspruch und Gericht zu stellen. Viele Menschen- und Bürgerrechtler wie Martin Luther King oder Nelson Mandela holten sich bei Gandhi Anregungen für ihre Ideen.

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/309087/die-universalitaet-der-menschenrechte-ueberdenken/ sowie epd zum 70-jährigen Jubiläum.