Die Kraft der Zuwendung

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über Hagar und den Engel

Gebraucht – benutzt – gedemütigt – fallen gelassen. So findet sich die junge, schwangere Hagar mitten in der Wüste wieder. Sie hat den verzweifelten Abram, der dringend einen Stammhalter braucht, zurückgelassen. Genauso wie dessen Frau Sarai, die ihre ägyptische Magd Hagar nachts zu ihrem Mann schickte, um das Problem ihrer Kinderlosigkeit elegant und zeitgemäß zu lö­-sen … Doch im Machtkampf hatte Hagar den Kürzeren gezogen. Ihre Herrin Sarai machte ihr das Leben so schwer, dass ihr nur noch die Flucht blieb. Die Flucht in die Wüste. So strandet Hagar an einem trostlosen Ort in der Wüste.

Ein Engel des HERRN fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste. Sie war am Brunnen auf dem Weg nach Schur. Der Engel fragte: „Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her und wo gehst du hin?“ Sie antwortete: „Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.“ (…) „Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael, ‚Gott hat gehört‘, nennen. Denn der HERR hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast“. 

  Aus 1. Mose 16,7–13

Beim ersten Lesen des Textes denke ich: „Was ist das für eine Hilfe?“ In meinen Ohren klingen die Worte des Engels wie Hohn: „Wissen Sie was, junge Frau, jetzt gehen Sie zurück zum Vater Ihres Kindes. Lassen Sie sich weiter von seiner Frau demütigen. Sie schaffen das schon. Schließlich hat Gott Ihnen ja zugehört, als Sie ihm von Ihrer Situation erzählt haben.“ 

Entgegen meinem spontanen Eindruck scheint Hagar durch die Begegnung mit dem Engel jedoch gestärkt und ermutigt. Doch um das zu verstehen, muss man auch zwischen den Zeilen lesen.

Für mich liegt der Schlüssel in den Worten des Engels: „Wo kommst du her, wo gehst du hin?“ Ich bin mir sicher, dass Hagars Antwort sehr viel länger ausgefallen ist, als uns überliefert wurde. 

So sehe ich Hagar an der Wasserquelle sitzen und den Engel neben ihr. Ich spüre die Ruhe, die von dem Engel ausgeht, und seine Präsenz. Der Engel hat keinen Zauberstab in der Hand, mit dem er Hagars erlebte Demütigungen wegwischt oder ihre Zukunft mit Glitzer überzuckert. Er ist einfach nur da. Er leiht ihr sein Ohr und seine zugewandte Gegenwart. Dieser eine Mensch hat seine volle Aufmerksamkeit, seine ganze Zuwendung verdient. Durch die Augen des Engels wird Hagar gesehen. Nicht als die unbequeme schwangere Magd, nicht als die Ausländerin, weder als Opfer noch als Täterin. In den Augen des Engels ist Hagar einfach ein Mensch.  

Hinter den knappen Zeilen der biblischen Geschichte ist für mich regelrecht zu spüren, wie diese junge Frau sich während der Begegnung mit dem Engel verändert, wie ihr Atem sich normalisiert, ihr Körper plötzlich Stärke ausstrahlt. Keine gehetzte, notgedrungene Stärke, sondern eine, die von Innen kommt.

Ich nehme mir vor mich in der kommenden Woche immer mal wieder an diese schönen Gefühle zu erinnern. Und vielleicht darf ich ja manchmal selbst in die Rolle des Engels schlüpfen und meinem Gegenüber das Ansehen schenken, das dieser Mensch gerade braucht.

Pfarrerin Anja Matthalm, Neukirchen