Armenien: Spurensuche im Herzen der Gewalt

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Bilder zu unserem Artikel im April 2015 über Armenien. Familie Baghdasaryan steht auch aktuell nach ihrer Flucht vor einer ungewisser Zukunft. Fotos: Archiv Sobl/privat
Bilder zu unserem Artikel im April 2015 über Armenien. Familie Baghdasaryan steht auch aktuell nach ihrer Flucht vor einer ungewisser Zukunft. Fotos: Archiv Sobl/privat

Erinnerung an Vertreibung der Armenier – letzte Etappe einer unendlichen Geschichte?

Unsere Artikel vom April 2015 finden Sie hier zum Herunterladen:

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Was hat ein exotisches Gebiet im unwirtlichen Kaukasus mit Deutschland zu tun? Diese Frage stellte sich für den evangelischen Theologen Johannes Lepsius (1858–1926) vor rund 130 Jahren gar nicht. Er setzte sich sofort für die Armenier ein.

Lag es daran, dass er sich in jungen Jahren selbst ein Bild vom christlichen Leben im Orient machen konnte? Denn nach seinem Theologiestudium sammelte er ab 1884 als Hilfsprediger und Lehrer erste Erfahrungen in Jerusalem. Die Region stand damals unter osmanischer Oberhoheit: Dort knüpfte er auch enge Verbindungen zu armenischen Christen. Sie bewachten etwa in Jerusalem die heiligen Stätten.

Ferner hatten sich in den Jahrzehnten davor reformatorische Ideen auch innerhalb der Armenisch-Apostolischen Kirche ausgebreitet. Ab etwa 1830 förderten Missionare aus den USA evangelische Reformbestrebungen, Bildungsarbeit und das Bibelstudium unter den Armeniern. Daraus entstand 1846 offiziell die Armenische Evangelische Kirche (ECA). Mit der armenischen Diaspora verbreitete sie sich später weltweit.

Als Johannes Lepsius in Jerusalem war, verbanden gerade evangelische Kreise große Hoffnungen mit den „orientalischen“ Christen: Von ihnen erhofften sie sich gar eine Erneuerung des Christentums.

1887 war Lepsius dann wieder zurück in deutschen Landen – als Pfarrer im Mansfeldischen Friesdorf. Dort erfuhr er entsetzt Anfang 1896 von grausamen Massakern an christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich. Denn solche Pogrome gerade an Armeniern gab es nicht erst 1915, sondern schon damals.

Diese Zusammenhänge hatte das Sonntagsblatt bereits im April 2015 dargestellt. Die Pogrome von 1915 wurden damals in Deutschland nicht veröffentlicht. Auch das Evangelische Sonntagsblatt nahm damals nur äußerst knapp Notiz von ihnen. Denn im Ersten Weltkrieg war das Deutsche Reich mit den Osmanen verbündet.

Anders 1894 bis 1896: Damals war auch unser Evangelisches Sonntagsblatt entsetzt über den Gewalt­ausbruch in „jenem fernen, blut‘gen Türkenland“.

Reise zu den Brandherden

Johannes Lepsius begann damals eigene Nachforschungen anzustellen. Ab Mai 1896 reiste er zunächst nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Über Angora, Kayseri und durch die kilikische Ebene führte ihn seine Erkundungsfahrt bis in die Städte Adana und Tarsus. Überall begegneten ihm Überlebende der Massaker und die Spuren der verwüsteten Quartiere oder zerstörten Dörfer der Armenier.

Unter diesen Eindrücken verfasste Lepsius das Buch „Armenien und Europa“. Es hatte den im Stil der Zeit ein wenig umständlich formulierten aber treffenden Untertitel: „Eine Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland“. Es umfasste rund 300 Seiten und erschien bereits Anfang September 1896. In wenigen Wochen erreichte es sechs Auflagen – Übersetzungen ins Französische und Englische nicht mitgerechnet.

Es ist eine ausführliche Dokumentation „der armenischen Massacres, denen 100.000 schuldlose Menschen zu Opfer fielen, und die an einem friedlichen und wehrlosen Volke verübt wurden“ und eine Analyse der Gewaltpolitik des Sultans. Lepsius kritisierte ebenfalls hart die Politik des Wegschauens der christlichen Großmächte: Diese hatten im Berliner Vertrag von 1878 eigentlich beschlossen, gerade den Armeniern im Osmanischen Reich mehr Schutz zu garantieren.

Die zuständige evangelische Kirche seiner Zeit war ebenfalls entsetzt – allerdings nicht über die Gewaltausbrüche, sondern über die Publikation. Obwohl Johannes Lepsius enge Beziehungen zu wichtigen Kreisen in Politik, Kirche und bei Hofe unterhielt, verweigerten seine Vorgesetzten ihm ein längeres Urlaubsgesuch. Er wollte Waisenhäuser, Schulen und Krankenhäuser für die armenischen Überlebenden der Massaker vor Ort aufbauen.

Einsatz für die Opfer

Lepsius kündigte daraufhin sein sicheres Pfarramt. Er widmete nun sein Leben dem Hilfswerk für Armenier im Osmanischen Reich. In ganz Deutschland hielt er Vorträge über die Situation der Armenier – auch in Mittelfranken. Unser Sonntagsblatt berichtete damals immer wieder darüber und veröffentlichte erschütternde direkte Zeugnisse aus den armenischen Waisenhäusern aus Smyrna (heute Izmir) oder Beirut vor Ort. Es sammelte Zehntausende Mark an Spenden für Armenien.

Auch nach dem Pogrom von 1915 setzte sich Johannes Lepsius erneut massiv für die Armenier ein. Doch nun fand er kein Gehör mehr. Als eine der wenigen Reaktionen auf seine Aufrufe nahm der Burgbernheimer Pfarrer Martin Paul Friedrich Gerhard von Zezschwitz (1859–1942) zwei armenische Waisenmädchen auf. Denn seine eigenen Kinder waren früh verstorben und er kannte Lepsius. 1916 verbot die deutsche Zensur weitere Dokumentationen zur Situation der Armenier. Man war besorgt, dass „die ganze Welt die Schuld dafür auf Deutschland“ im Gefolge der türkischen Verbündeten „abwälzen wird“.

Da kritisierte der engagierte Pfarrer Lepsius solche „Interessensgegensätze“ und den Versuch, „das was menschlich geboten ist, dem was politisch bequem ist, unterzuordnen.“ Er selbst bezog weiter Stellung – als einer der prominentesten Anwälte für die Armenier.

Gut hundert Jahre später, im September 2023, ging die Vertreibung von rund 110.000 Armeniern durch die aserbaidschanischen Sieger aus Berg-Karabach im Getöse aller weiteren Krisen unter. Spätestens nach dem Angriff der Hamas auf Israel gut zwei Wochen später geriet die Situation in Armenien aus der aktuellen Aufmerksamkeit. Braucht Europa nicht Öl und Gas aus Aserbaidschan? Die Sieger haben inzwischen bereits ein Auge auf den südlichen Teil Armeniens geworfen, um ihrerseits ihre Exklave der Region Naxsivan direkt mit dem Staatsgebiet verbinden zu können Zumindest geschieht jetzt dieses Gedenken zum Sonntag Reminiszere.

Mehr Informationen zum Gedenken an Reminiszere unter https://www.ekd.de/reminiszere-31408.htm. Dort auch kostenfreies Herunterladen einer umfangreichen Broschüre über Armenien zu dem Gedenktag.