Erschütterte ein Jahr die gesamte Welt?

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Buchcover. Detail
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Krisenjahr 1923: Kontrollverlust über den Alltag, auch Kirchen ohne Orientierung

Hatten nicht die Teufel selbst dieses Jahr zusammengebraut? Anno 23 ballte sich alles zusammen, was ungelöst und belastend war: Wenigstens ist es schon hundert Jahre vorbei, dieses Krisenjahr 1923. Eine Karikatur vom 27.12.1922 im „Simplicissimus“ zum „Höllischen Neujahr“ zeigt genau diese Befürchtung: Drei Teufel brauen einen Kessel dieses Jahres zusammen, einer presst noch eine Kröte darüber aus. 

Dabei konnte bei Erscheinen der Karikatur noch niemand wissen, dass nur wenige Wochen später der „Ruhrkampf“ beginnen sollte: Dies „stürzte die Weimarer Republik in die Hyperinflation, sorgte für mehr als 100 Todesopfer sowie Hunderte von Verletzten und Vergewaltigten, führte zu Hungerprotesten und motivierte Kommunisten, Separatisten und Rechtsextreme zu Aufständen.“ So fasst es Nicolai Hannig in seinem Essay „Die Ruhrbesatzung“ in dem historischen Sammelband „Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte“ prägnant in einem Satz zusammen. Er hatte Ende April 1923 schon hundert Tage auf dem Buckel.  Am Ende des Werkes befasst sich ein weiterer Essay von Detlev Mares mit diesen Simplicissimus-Karikaturen, die oft auch viel engherziger waren.

Um die Währung war es jedoch schon zum Jahreswechsel allzu schlecht bestellt, druckte doch die Reichsregierung immer mehr Scheinchen, um die Reparationen, Schulden oder laufenden Ausgaben zu bedienen. Mit der Ruhrbesatzung stiegen die Kosten ins Unermessliche, rief doch die Reichsregierung zu Streiks und passivem Widerstand auf. Der Staat übernahm bei den Ausständen die Löhne von zwei Millionen Arbeitern im Ruhrgebiet – Tageskosten: 40 Millionen Mark.

Die Menschen verloren die Kontrolle über ihren Alltag. Dabei wollte kaum jemand wahrhaben, dass die Währungskatastrophe schon 1914 durch den Weltkrieg begonnen hatte: Auch demokratische Politiker trauten sich nach 1918 nicht, darauf hinzuweisen – zu tief waren die Risse der Gesellschaft. Mit dem Ende des Krieges hatte die Mark bereits mehr als die Hälfte ihrer Kaufkraft verloren – dies noch kaum wahrnehmbar, da Preiskontrolle herrschte. Nur der Schwarzmarkt bildete reale Verhältnisse ab. Ab Mitte 1922 nahm die Geldentwertung an Fahrt auf.  

Orientierungslose Kirchen

Konnten die Kirchen nicht in dieser Lage helfen? Natürlich ließen sich Suppenküchen einrichten und diakonische Nothilfe leisten. Die christliche Hilfe war weiter bitter notwendig trotz aller amtlichen Wohlfahrtspflege des Staates. Da ist gerade die Frauenhilfe als sozialdiakonischer, doch konservativer Hilfsverein zu nennen. Wenig mehr war möglich. 

Denn auch gerade für die protestantischen Kirchen war 1918 eine Welt zusammengebrochen. Sie waren oft noch allzu sehr mit sich selbst beschäftigt. Schließlich hatten sie durch die Revolutionen ihre Landesherrn verloren, die das Kirchenregiment der evangelischen Kirchen gestützt hatten. Gleichzeitig begann die Zeit der Säkularisierung. 

Die Trennung von Staat und Kirche war dann eine wesentliche Forderung der zunächst regierenden Sozialdemokratie. Angesichts der instabilen Lage wollte die Reichsverfassung zwar einen weltanschaulich neutralen Staat, aber auch Kooperation mit den Kirchen, die er als Körperschaften des öffentlichen Rechts förderte. Dabei lebten gerade die protestantischen Kirchen, plakativ gesagt, noch in der monarchischen Zeit. Erst mit der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 kamen sie spät und langsam in der ungeliebten Republik an.

Ein weiteres Problem: Wenn ihnen schon die Landesherrn abhanden gekommen waren – sollte nicht die Vielzahl der Landeskirchen durch eine reichseinheitliche Kirche zu ersetzen sein? Aber dann organisierte sie sich neu in den traditionellen Bahnen. Die damals 28 Landeskirchen gaben sich bis 1925 eigene Kirchenverfassungen – neu waren ihre Kirchenparlamente. In Preußen blieb die übermächtige Altpreußische Union erhalten, aber auch Landeskirchen der nach 1866 annektieren Gebiete. 1919 trat in Dresden der „Deutsche Evangelische Kirchentag“ zusammen – quasi als gesamtdeutsche Synode. 1922 gründete sich der Deutsche Ev. Kirchenbund. Die katholische Seite schloss Konkordate mit einzelnen Landesregierungen. Aus Paritätsgründen gab es etwa auch in Bayern, Preußen und Baden Kirchenverträge mit evangelischen Landeskirchen.

Bewältigungsstrategien?

Einen weiteren Horizont zeigt der „Krisen“-Band 1923 auf: Auch nach den Friedensschlüssen gab es 1919 keinen allgemeinen Frieden in Europa: Griechenland und die Türkei kamen erst 1923 zu einem Kompromiss – und ersten Vertriebenen in nationalem Ausmaß. Polen kämpfte um sein Staatsgebiet, in Russland herrschte Bürgerkrieg, bis sich die Bolschewiken gerade um diese Zeitenwende durchsetzten. Lenin war da schon nach Schlaganfällen kaum noch redefähig. Der Faschismus in Italien begann seit Oktober 1922. 

Auch durch die Krisen vor hundert Jahren hatte die Weimarer Republik an Akzeptanz verloren. Dennoch ging es irgendwie weiter. Die Reichsregierung beendete im September 1923 den passiven Widerstand – Frankreich war nicht mehr stark genug, um nachzusetzen. Die neue Währung der Rentenmark kam am 15. November 1923: Umtauschwert: eins zu eine Billion Papiermark.

„Die Republik überlebte, weil ihre Gegner, rechts wie links, noch schwächer waren als die Demokraten, weil sie zum jetzigen Zeitpunkt keine überzeugende und breit akzeptierte Systemalternative boten und weil sie noch viel weniger als die demokratischen Kräfte über die Fähigkeit und die Mittel verfügten, Staat und Gesellschaft aus der Krise zu führen.“ So wiederum bringt es Eckart Conze in seinem Aufsatz „Zeitendwende 1923? Wurzeln und Wirkungen eines Krisenjahrs“ in demselben Sammelband auf den Punkt.

Und weiter: „Aber auch für die Feinde der Demokratie waren die Jahre zwischen 1924 und 1930 eine Phase der Konsolidierung, eine Phase der strategischen Neuorientierung.“ Deren Mittel zur Krisenbewältigung, „nicht zuletzt die Entparlamentarisierung und der Ausnahmezustand des Notverordnungsrechts, waren 1923 erprobt und angewandt worden, um die Republik zu schützen.“ Aber sie ließen sich auch dagegen richten.

Zu Neujahr1924 schrieb der zeitgenössische Politiker und Staatsrechtler Hugo Preuß vorsichtig von „schwachen Symptomen, die der Hoffnung Nahrung geben können“ zur „Änderung einer bisher trostlosen Lage“.

Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg Academic 2022, ISBN 978-3-534-27530-4, auch E-Book, 240 S., 40 Euro.

W.-Fr. Schäufele: Kirchengeschichte II. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Ev. Verlagsanstalt 2021, 544 S., ISBN 978-3-374-05484-8, 48 Euro.