Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über Tränen und Seligkeit
Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden.
aus Hebräer 5, 1–10
Laut schreien – das will ich auch bisweilen angesichts der Nachrichten, die derzeit in den Zeitungen zu lesen sind. Im Hebräerbrief ist es der irdische Gottessohn, der seinen Vater bittet, anfleht, schreit und weint. Es sind verschiedene, unterschiedlich intensive Formen des Gebets – wo die Worte versiegen, bleiben Schreie und Tränen. Meine Gedanken wandern den Leidensweg Jesu entlang, auf dem er mit wachsender Verzweiflung betet. Im Garten Gethsemane fleht er unter Zittern und Zagen: „Nimm diesen Kelch von mir!“ Am Kreuz schreit er es hinaus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ein Schrei – ein letztes Gebet. Es ist vollbracht.
Bis zuletzt ringt der Gottessohn mit seinem himmlischen Vater um seine Rettung. Er wird erhört, weil er „Gott in Ehren hielt“, wie die Lutherbibel übersetzt. Anders gesagt: Jesus wird errettet, weil er glaubt. Weil er bis zum Schluss seinen Gott nicht in den Wind schreibt, sondern flehentlich, schreiend und weinend bittet und betet. Der Vater erhört ihn – zu guter Letzt. Er rettet ihn nicht vor dem Tod, aber aus dem Tod: Am Ostermorgen tritt er aus der dunklen Todeskälte des Grabes in ein neues, unvergängliches Leben hinaus, um für alle zum „Urheber der ewigen Seligkeit“ zu werden. Er ist vollendet.
Der Vater erhört den Sohn in seiner Not. Und „obwohl er der Sohn war“ lernt er erst „an dem, was er litt, Gehorsam“. Ich tue mich schwer damit, dass das Leid eine von Gott geschickte Prüfung des Glaubens sein soll. Leid hat seinen Sinn nicht darin, dass Menschen blinden, demütigen Gehorsam lernen.
Gehorsam kommt von hören, gar von horchen. Ich bin versucht, etwas spielerisch zu lesen: In seinem Leiden lernt der Gottessohn, seinen Vater zu erhören. Er horcht auf die Stimme des Vaters, lauscht seinem Willen: „doch nicht, was ich will, sondern was du willst“.
In den dunkelsten Stunden bleiben der irdische Sohn und der himmlische Vater verbunden: der Sohn betet, der Vater erhört ihn. Der Sohn horcht auf den Vater – bis in den Tod hinein. Nicht einmal, als der gottverlassene Schrei Jesu vom Kreuz zum Himmel steigt reißt das Gespräch ab. Es ist die Kraft dieser Beziehung, die den Tod überdauert und ihn überwindet. Es ist die Kraft, die es Ostern werden lässt.
Es ist eine heilvolle Beziehung, die in Beten und Hören gelebt wird. Eine Glaubensbeziehung, die gelernt und eingeübt sein will. Sie wird erprobt im Klagen, Bitten und Flehen bis ins Schreien und Weinen, wenn die Worte fehlen. Sie wird erfahren im Jubeln, Danken, Loben und Singen über einen Gott, der uns hört. Sie festigt sich im Horchen auf Gott. Sie pflanzt sich fort, wo Menschen miteinander reden und sich zuhören. Im Beten und Hören liegt bis heute eine Kraft, die die Welt verändern kann, weil sie die Welt schon verändert hat.
In all dem Leidvollen lässt mich eine Zeitungsnotiz dieser Tage schmunzeln: Ich lese, dass während eines Gottesdienstes die Turmglocke aus ihrem Gestell gebrochen ist. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Dennoch ein ordentlicher Schreck mit großem Getöse. Die Gemeinde feierte ihren Gottesdienst einfach weiter: Beten und Hören – alles andere kommt danach!
Hendrik Meyer-Magister Tutzing