Kein Aufpasser, aber ein Gott, der nach mir schaut

346
Inge Wollschläger, Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern
Inge Wollschläger, Mitglied der Redaktionskonferenz im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern, Hintergrundbild von Erich Kraus.

Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger über die Jahreslosung

Einmal in meiner Zeit als Krankenschwester in einer Notaufnahme wurde uns nachts eine Patientin nach „häuslicher Gewalt“ angekündigt. Als Team wussten wir dann nie, was uns erwarten würde. War es ein schwerer psychischer Erregungszustand oder gab es Verletzungen nach einem tätlichen Angriff? 

Es wurde eine junge Frau mit dem Rettungsdienst gebracht, die noch keine 30 Jahre alt war. Ihr Blick war seltsam leer. Sie hatte etliche blutende Wunden am Kopf und an den Armen. Überall auf ihrem Körper befanden sich Verbrennungsspuren. „Mein Freund drückt manchmal seine Zigaretten auf mir aus“, nuschelte sie zwischen den geschwollenen Lippen hervor. Die Mitarbeitenden  im Rettungsdienst waren sichtlich erschüttert und berichteten von der verwüsteten Wohnung. 

Wir versorgten ihre körperlichen Wunden. Anschließend wollte sie auf keinen Fall in ein Frauenhaus und damit in Sicherheit. „Ich möchte nach Hause. Mein Freund hat mir Geld fürs Taxi mitgegeben.“ Immerhin: Der Freund war in dieser Nacht nicht mehr in der Wohnung. Die Polizei hatte ihn in Gewahrsam genommen. 

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ ist die Losung für dieses Jahr. Es ist das persönliche Bekenntnis einer Frau, namens Hagar. Sie weiß, was es bedeutet, nicht gesehen und links liegen gelassen zu werden. Vielleicht kennt sie als Sklavin und Ausländerin auch Misshandlungen. 

Es ist keine Geschichte überliefert, wie das Leben von Hagar weiter verlief. Ich weiß nicht, was aus der Patientin in der Notaufnahme wurde. Ob sich ihre Lebenssituation zum Guten gewendet hat? 

Es tröstet mich, dass in all dem Leid, das es gibt, es auch immer wieder Augenblicke gibt, in denen man gesehen wird. Wo man nicht allein ist. Wo sich keiner von uns abwendet. Auch wenn es vielleicht „nur“ ein Fremder in einer Notaufnahme ist. 

Hagar gibt Gott eine Art Namen: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Es ist nicht der große Aufpasser. Nicht der Übermächtige, der unnahbar in den Wolken über uns richtet. Gott ist jemand, der liebevoll nach mir schaut und der mich in meiner Not nicht allein lässt. 

Ich hoffe sehr, dass die Frau in der Notaufnahme – trotz allem Leid und stellvertretenden für viele – eine ähnliche Erfahrung in ihrem Leben erfahren durfte.