Leidender – Liebender – Leitstern

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Roettgen-Pieta, um 1300, Bonn, Rheinisches Landesmuseum. Bild: akg
Roettgen-Pieta, um 1300, Bonn, Rheinisches Landesmuseum (Detail). Bild: akg

Gedanken zum Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ zum 500. Gesangbuch-Jubiläum

Hat das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ nicht schreckliche Inhalte? Es beschreibt besonders drastisch das qualvolle Sterben Jesu am Kreuz. Als ob es nicht schon genug in dieser Welt gäbe! Jesu Leiden soll dann noch „ich selber“ verschuldet haben! Was aber hat uns dieses Lied heute noch zu sagen? Eine Spurensuche zum 500. Gesangbuch-Jubiläum:

Reimt sich „Freuden“ auf „Leiden“? Diese Zusammenstellung wirkt durchaus gewagt – nicht nur mit Blick auf die unterschiedlichen Doppelvokale. Es klingt auch innerlich völlig überdreht. Und doch entstammen sie der Feder des großen protestantischen Liederdichters Paul Gerhardt: In der 7. Strophe des drastischen Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ heißt es: „Es dient zu meinen Freuden, / Und tut mir herzlich wohl, / Wenn ich in deinem Leiden, / Mein Heil, mich finden soll“. Vorausgegangen waren besonders plastische Schilderungen des Sterbens Jesu am Kreuz. Können wir so etwas noch mitsingen?

Oder ist es Ausdruck einer gewalttätigen Zeit, die gerade den Dreißigjährigen Krieg hinter sich hatte? Paul Gerhardt dichtete den Text wohl 1656, im letzten Jahr seiner Amtszeit als Propst in Mittenwalde, nach. Vorbild war der lateinische Hymnus „Salve Caput cruentatum“ des Zisterzienserabtes Arnulf von Löwen in der Zeit um 1200. Wie damals ein gotischer Christus am Kreuz in vielen Kirchen drastisch in seinem Todeskampf dargestellt wurde, so auch in diesem Hymnus. Die einzelnen Phasen und Bilder der Passion sollen möglichst intensiv nacherlebt – und damit vergegenwärtigt – werden. Nun gut, das war sicher auch keine gewaltfreie Zeit. Ist unsere Epoche so viel besser?

In der Tradition des großen Mystikers Bernhard von Clairvaux (1090–1153), dem dieser Text früher selbst zugeschrieben wurde, verbinden sich in dem Hymnus die intensive Betrachtung der Passion und des geliebten Seelenbräutigams. Letzterer entstammt einer allegorischen Auslegung des „Hohelieds“: Dort geht es wörtlich um eine erotische Annäherung eines Paars. Dieser skandalöse Text schrie nach einer Ausdeutung: Im Judentum geschah dies als Beschreibung der Liebe zwischen Gott und seinem auserwählten Volk. Christlich wurde er als Beziehung zwischen Christus und der Kirche als seiner Braut interpretiert. Die hochmittelalterliche Mystik meditierte intensiv darüber.

Ist nicht auch dies ziemlich verdreht – eine Betrachtung des Leides und erotische Anklänge fast miteinander zu verschränken? Entstammt dies der überspannten Gedankenwelt von Männern, die mal Keuschheit geschworen hatten? Doch auch Martin Luther schätzte Bernhard sehr und schrieb über ihn: „Ist jemals ein gottesfürchtiger und frommer Mönch gewesen, so war‘s St. Bernhard.“ 

„Ich selbst“ brachte Leid 

Na gut. In dieser Tradition muss auch Paul Gerhardt auf den lateinischen Mythos gestoßen sein. Dabei betont er die engen Bezüge zu den Gottesknechtsliedern des Jesaja (vor allem im Kapitel 53), der wegen „unserer Sünden“ leiden muss: Der berühmte protestantische Liederdichter verschärft hier noch die Aussagen durch die Individualisierung: „Ich selbst“ (Strophe 4) habe Jesu Leiden verursacht. Besonders unerträglich erscheint dies nach der vorangegangenen Beschreibung des geschändeten Antlitzes.

Das „Schau her“ in dieser Strophe 4 leitet aber eine Umkehr des Blickes ein. Während bisher „ich“ das Gesicht des Leidensmannes genauestens betrachtet habe, geschieht nun die Bitte, dass er sich mir zuwenden soll. Obwohl „ich“ sein Leiden verursacht habe, gibt
es ein Flehen um die Gnade der Vergebung, die durch die Hinwendung Jesu zum Sünder erfolgen kann. 

In Strophe 6 sucht der Liederdichter im Gegensatz zu den geflohenen Jüngern die Nähe zum Gekreuzigten. Nun ruht Jesus im Schoß des Betenden – wie nach der Kreuzesabnahme im Schoß seiner Mutter: Die Pieta gewann nicht zufällig schon im hohen Mittelalter eine besondere Bedeutung. 

Der Körper mit den überlangen Armen, die das Kreuz überdehnt zu haben scheint, wirkt wie zerbrochen. Doch bleibt nur die Verzweiflung Marias. Eine besonders drastische Darstellung zeigt die hochgotische „Roettgen-Pieta“ aus der Zeit um 1300 (oben), in der der Leib Jesu völlig eingefallen erscheint. Doch sein überdimensioniertes Antlitz, auf das sich die Blicke richten, scheint Frieden gefunden zu haben, während Maria völliges Entsetzen und haltlose Trauer zeigt. 

Mehrere Strophen des Chorals verwendete J. S. Bach (1685–1750), der sich ebenfalls fasziniert von der Hohelied-Mystik zeigte, für seine Matthäuspassion. Die Melodie erscheint auch im Weihnachtsoratorium zum Gerhardt-Text „Wie soll ich dich empfangen“ und beim Finale.

Doch warum nur erweckt Jesu „Leiden“ meine „Freuden“ (Strophe 7)? Es ist ein Zeichen der Erlösung. Direkt am Kreuz, im Angesicht Jesu im Todeskampf möchte „ich“ ebenfalls „Mein Leben von mir geben! / Wie wohl geschähe mir!“ Trotz der drastischen Eindringlichkeit wird hier aber das Gnadenhandeln Jesu beschworen. 

Nun weitet sich in der 8. und 9. Strophe der Blick auf Jesu Beistand im eigenen Tod: „Wenn mir am allerbängsten / Wird um das Herze sein: / So reiß mich aus den Ängsten / Kraft deiner Angst und Pein.“ Rettung im Gericht Gottes geschieht durch den stellvertretenden Kreuzestod – ähnlich wie im Hymnus. Jesus ist – hoffentlich – der Mittelpunkt des Lebens, der Lenker meiner Welt. 

Die Todesstunde wirft ihre Schatten voraus, macht mein Herz zum „allerbängsten“. Doch Christus erscheint nun den Betenden in der Todesstunde: „Da ich will nach dir blicken, / Da will ich glaubensvoll / dich fest an mein Herz drücken. /Wer so stirbt, der stirbt wohl.“ 

Da Jesus selbst das größte Leid erfahren hat, kann er mich durch tiefste Dunkelheiten, selbst durch das Sterben begleiten. Lässt sich das nicht klarer sagen anstatt mit Anklängen, die uns ganz aktuell besonders Schwierigkeiten machen? 

Doch da haben wir bisher die 5. Strophe des Liedes ausgelassen. Dort genau wird der Gute Hirte aus Psalm 23 beschworen (vgl. auch Seite 23). Nun hat Jesu „Mund mich gelabet / mit Milch und süßer Kost“: Hier klingt noch der Kuss des göttlichen Liebhabers nach. Doch „Dein Geist hat mich begabet / Mit mancher Himmelslust“ – das zeigt dann eher Verbindungslinien zu einer gehaltvollen Predigt. Es weist trotzdem auf den Leitstern der Guten Botschaft hin. Jesus leitet uns auch durch das „finstere Tal“ von Leid und Tod. In größten „Ängsten“, da war er schon.

Hansjakob Becker u.a. (Hg): Geistliches Wunderhorn. Große dt. Kirchenlieder. Beck 2001, ISBN 978-3-406-48094-2 (Seiten 275–291 von Ansgar Franz).