Sammlung im Gebet

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Sonntag Rogate

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle.

1. Timotheus 2, 1–6a

Ein ruhiges und stilles Leben – das klingt verlockend, klingt nach Stillleben: Ein schönes Zimmer, etwas Obst auf dem Tisch, ruhige Farben, Blick aus dem Fenster in die Weite auf blühende Bäume und in den blauen Himmel, der Vorhang vom leichten Wind bewegt. Ein guter Ort für einen Rückzug, vielleicht auch zum Beten. Natürlich hat dieses Zimmer auch eine Tür, eine Verbindung zwischen innen und außen. Wohl dem, der ein solches Zimmer hat! Glücklich kann sich nennen, dem es möglich ist, in einem guten Wechsel zwischen Aktivität draußen und innerer Einkehr zu leben. Was für ein Schatz ist es, einen Ort zu haben, an dem ich geschützt bin, an dem Ruhe und Stille ist!

Die Sehnsucht nach Atempausen ist bei vielen groß; Meditations-Workshops, Retreats in Klöstern, Tage der Stille sind gefragt. 

Dabei ist der Brief an Timotheus alles andere als ein Flyer für ein Wellness-Wochenende. Die Mahnungen und Verhaltensregeln in diesem Schreiben zu lesen, macht nicht nur Spaß und ruft 20 Jahrhunderte später bestimmt bei der einen oder dem anderen Widerstände hervor; und sollte sich jemand auf der Suche nach Achtsamkeit und Geschlechtergerechtigkeit auf den Weg in die evangelische Kirche machen, dem wäre zur Lektüre im Wartezimmer vielleicht eher die aktuelle Ausgabe einer farbenfrohen Zeit-schrift über Selbstfürsorge empfohlen als der Timotheus-Brief. Sonst bestünde womöglich die Gefahr, dass die ratsuchende Person auf dem Absatz kehrt und sich auf den Weg ins Standesamt machen könnte, um aus der Kirche auszutreten.

Den Wunsch aber nach einem ruhigen und stillen Leben, den hatten sie damals, den haben wir heute. Und die Erfüllung dieses Wunsches hat damals wie heute etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Eine Solo-Meditation wird nicht ausreichen, nicht nur einige wenige sollen es gut haben. Es geht um die Rettung aller. Drunter geht es nicht. In den wenigen Zeilen, die an diesem Sonntag aus dem Timotheus-Brief zitiert werden, steht es vier Mal: für alle Menschen!

Der Blick wird weit. Es geht um ein gutes Zusammenleben. Es geht um Frieden auf Erden. Um Obst auf jedem Tisch, ein Dach über dem Kopf und einen Blick aus dem Fenster für alle, um einen sicheren Ort zum Leben für jede und jeden.

Die Türen zwischen Gebet in der Stille und Leben in der Welt müssen sich öffnen lassen. Der Blick aus dem Fenster muss in viele Richtungen gehen: Was ist zu sehen? Wo regt sich tiefe Dankbarkeit? Wo ist Not? Wer braucht Fürbitten? Wann ist es Zeit, die Augen offen zu halten, zu sehen, wer Hilfe braucht? Wann ist es die Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und zu helfen? Wann ist es Zeit, sich zu sammeln, die eigene Hilflosigkeit anzuerkennen, sich vor Selbstüberschätzung zu schützen, die Hände zu falten, die Augen zu schließen, und Gott um Kraft, um Hoffnung, um Ruhe, um Stille, um das Leben zu bitten? Das eine geht nicht ohne das andere.

Hannah v. Schroeders Pfarrerin, Traunstein