Die Harfe in die Hand nehmen

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Sonntag Kantate

Der Geist des Herrn aber wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn verstörte ihn. Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.

aus 1. Samuel 16, 14–23

„Jauchzet, frohlocket!“ Das waren die letzten Worte meines Vaters. Längst hatte ihn seine Krankheit in den Nebel des Vergessens gehüllt. Selbst seine Sprache war ihm wie ein verlorener Schlüssel abhandengekommen. Doch kurz vor Weihnachten, als wir noch einmal bei ihm waren, legte meine Tochter jene CD ein: Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Und mein Vater spitzte die Ohren, seine Augen hellwach, sein ganzer Körper richtete sich auf, dann die Trommeln, die Posaunen und sogleich setzte er punktgenau, strahlend mit dem Chor ein: „Jauchzet, Frohlocket!“ Ein letztes Mal hatte ihn seine geliebte Musik in Resonanz versetzt.

So wie offensichtlich damals den alten König Saul: Längst ist sein Erfolg Geschichte. Seine Siege nur noch Vergangenheit, es geht ihm nicht gut. Was ihm stets Freude bereitete, Kraft und Lebensenergie zu schenken vermochte, erreicht ihn nicht mehr. Nur David, jener Hirtenjunge, vermag den alten König noch zu erreichen. Mit seiner Harfe scheint er den richtigen Ton zu treffen. Saul ist wie verwandelt. Ich stelle mir vor, wie seine Wutanfälle verglimmen, seine Augen wieder lebendiger werden. So berührt David die Seele jenes alten Königs, dass er sich getröstet fühlt.

Von der Wirkung her betrachtet ist dies ohne Zweifel eine tolle Geschichte. Aber sie verschweigt etwas, vielleicht nicht ohne Grund. Es geht um das Wunder der Resonanz. Wo es sich ereignet, geschieht mehr als bloßer Widerhall. Resonanz ist komplizierter, fragiler und deshalb so kostbar.

Es gibt wunderschöne Lieder, die wir in unseren Gottesdiensten singen dürfen. Und dennoch: Das gleiche Lied kann einen zu Tränen rühren, während es uns zu einem anderen Zeitpunkt kalt die Schulter zeigt. Nicht jeder Ostermorgen schmeckt nach Aufbruch und Neubeginn.  Resonanz kann man nicht machen, sie ist uns unverfügbar. Wohl aber kann man einiges dazu tun, dass sie geschieht. 

Ich stelle mir vor, wie David, bevor er seine Harfe gezückt hat, mit Saul geredet haben, sich für ihn interessiert haben muss. „Erzähl mir Saul! Was ist geschehen?“ Zumindest muss er einen Moment lang hineingehorcht haben, welche Stimmung sich in dem Raum gerade ausgebreitet hat. Nur so konnte sein Harfenspiel auf die Stimmung des Königs resonieren.

Wie reagiere ich, wenn mir jemand von seinem Schicksal erzählt? Mit Tipps und Ratschlägen oder jenem Zuspruch wie aus der Pistole geschossen: „Ich bete für Sie“?  Wie schwer ist es, wirklich zuzuhören, uns zu interessieren, wenn uns Andere an ihrem Leben teilhaben lassen. Ihr Schicksal rührt uns an. Das ist nicht nur angenehm. Groß ist die Verführung, das Gehörte mit eigenem Lärm zu übertönen. 

In der Pastoralpsychologie sagen wir: Wir sind das Instrument der Seelsorge. So lernen wir in der Seelsorgeausbildung, die Saiten unseres Instruments zu stimmen, sie zu hören und um ihre Resonanz in uns zu wissen. Erst dies ermöglicht uns, unserem Gegenüber zuzuhören, und da, wo es dran ist – als würden wir die Harfe in die Hand nehmen – die eigenen ins Schwingen gekommenen Töne unserem Gegenüber zur Verfügung stellen.

Stephan Opitz, Pfarrer an der Petrikirche Baldham