Nazis vor Gericht – die Nürnberger Prozesse

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Die Hauptangeklagten (von links) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13. Februar 1946 in Nürnberg. Foto: pa
Die Hauptangeklagten (von links) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13. Februar 1946 in Nürnberg. Foto: pa

Vortrag in einfacher Sprache im Rahmen der Straßenkreuzer-Uni

Vor 90 Jahren erlangten die Nationalsozialisten die Macht und festigten ihre verbrecherische Herrschaft. Man spricht eher von Machtübergabe, erläutert in einer Vorlesung vor der Nürnberger Straßenkreuzer-Uni der Historiker und Autor Siegfried Zelnhefer. Er befasst sich mit dem Ende der Nazis: den Nürnberger Prozessen.

Nürnberg ist mit verschiedenen Begriffen aus der Geschichte weltweit bekannt und alle haben etwas mit den Nazis zu tun“, beginnt Siegfried Zelnhefer seinen Vortrag vor der Straßenkreuzer-Uni. Welche? „Die Antwort Nummer Eins sind dabei immer ,Die Nürnberger Prozesse‘.“ , erläutert der promovierte Historiker, Journalist und Autor.

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) machte Nürnberg zur Stadt ihrer Reichsparteitage und wollte, dass die Welt dabei zuschaut. Das ist der zweite Begriff und der dritte lautet „die Nürnberger Gesetze“, die 1935 gegen die Juden auf so einem Parteitag von Hermann Göring bekannt gegeben wurden. Dieses Gesetz bestand im Wesentlichen aus zwei Teilen: Dem „Blutschutzgesetz“, wonach sogenannte Arier keinen Kontakt zu Juden haben durften und dem „Reichsbürgergesetz“, das festlegte, wer „Deutscher“ sein durfte und wer nicht. „Mit diesen dreien ist Nürnberg für immer verbunden“, sagt Zelnhefer, der ein Buch über die Nürnberger Prozesse verfasst hat, „Die Reichsparteitage der NSDAP“, das als Standartwerk dazu gilt.

Zigtausende Besucher kämen aus aller Welt jedes Jahr nach Nürnberg wegen dieser Geschehnisse, so der ehemalige Langjährige Pressesprecher der Stadt Nürnberg. Nicht wegen der Burg, der Lebkuchen oder der Bratwürste kommen viele, sondern wegen der Bedeutung der Stadt im Dritten Reich und deren verhängnisvollen Auswirkungen. Daher sei es wichtig, dass die Nürnberger selbst über diese Geschichte Bescheid wissen. In einfacher Sprache – so die Vorgabe der Straßenkreuzer Uni – führt Zelnhefer die Zuhörer im Karl-Bröger-Haus in diese Geschichte ein. Die Straßenkreuzer Uni bietet Bildung für alle an. Mit den kostenlosen Bildungsangeboten wendet sich die Uni in erster Linie an arme, wohnungslose, langzeitserwerbslose oder einsame Menschen. Doch die Straßenkreuzer Uni heißt auch alle Interessierten willkommen, unabhängig von Einkommen, Bildung oder Wohnort. 

Bedeutsam sei die Vorgeschichte, die sich vor den Prozessen abspielte, so der Dozent. Der Erste Weltkrieg hatte hohe Verluste auf allen Seiten gebracht. Danach hat sich die Weltgemeinschaft darauf verständigt, dass Kriege verhindert werden oder wenigsten „zivilisiert“ und geregelt ablaufen sollten. Es gründete sich der Völkerbund, ein Vorläufer der heutigen Vereinten Nationen (UN). Er wurde von 103 Jahren, am 10. Januar 1920, gegründet und befasste sich mit Regeln, wie man künftig Konflikte zwischen Staaten austragen könne. „Es ging um den Versuch einer neuen Weltordnung und darum einen Angriffskrieg zu ächten“, erklärt Zelnhefer.

Machtübergabe

1926 trat Deutschland, die Weimarer Republik, dem Völkerbund bei. Aber schon 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Der Begriff „Machtübernahme“ ist dabei völlig irreführend, erläutert Zelnhefer. „Der Begriff ist eine Lüge der Nazis“. Vielmehr haben andere politische Kräfte die Macht den Nazis übergeben. Auch nach der Wahl am 5. März 1933 konnten sie nicht aus eigener Kraft regieren. „Die Nazis erhielten nur 43,9 Prozent aller Stimmen und konnten nur regieren, weil andere Parteien Hitler die Steigbügel hingehalten haben.“

Das spätere Argument, das viele Deutsche zu ihrer Verteidigung anführten, man habe nicht gewusst, was die Nationalsozialisten im Schilde führen, enttarnt Zelnhefer ebenfalls als Lüge: „Die Nationalsozialistische Partei Deutschlands hatte von Anfang an Antisemitismus, Antibolschewismus und die Eroberung von Lebensraum im Osten in ihrem Programm“. Sie erkannten die Versailler Friedensordnung von 1918 nicht an. Sie verbargen zu keiner Zeit ihre rassistische Gesinnung und behaupteten von Anfang an, die Deutschen seien als „Arier“ das „Herrenvolk“. „Das alles war schon in den 1920er Jahren bekannt und es ging von Anfang an darum, andere Menschen zu unterjochen!“ Das wurde später auch umgesetzt, indem Millionen Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Polen, Weißrussland und Russland förmlich versklavt wurden. „Ich finde das einen unerträglichen und nicht nachzuvollziehenden Gedanken!“, sagt Zelnhhefer betroffen.

„Auch der Zweite Weltkrieg war nicht einfach ,ausgebrochen‘. Er war von Adolf Hitler und seinen Mitmachern geplant.“ Er begann ebenfalls mit einer Lüge, indem von den Nazis behauptet wurde, der Sender Gleiwitz sei von Polen angegriffen worden. Ein Vorwand, durchgeführt von verkleideten deutschen Soldaten. „Es handelte sich von Anfang an um einen verbrecherischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Er war von Anfang an geplant und es ging auch um Vernichtung von Menschen!“, macht der Historiker deutlich. „In diesem Umfang war das weltweit und historisch ein einmaliges und unvorstellbares Verbrechen!“ Die Bilanz war ein Krieg mit 55 Millionen Toten – drunter allein sechs Millionen ermordeten Juden. Sie wurden gezielt ermordet, ein großer Teil in Konzentrationslagern (KZ). Auch die Tötung von Menschen mit Behinderung gehörte zu diesen Verbrechen. „Der Euthanasie fielen ungezählte Menschen zum Opfer, nur weil die Nazis sagten, ,du bist nicht lebenswert‘. Unglaublich!“, ruft Zelhefer aus und weist immer wieder mit Nachdruck darauf hin: „Das war alles geplant!“

Die Folge dieses verbrecherischen Krieges war, dass 1945, nach nicht mal sechs Jahren, ganz Europa zerstört war, insbesondere Deutschland. „Die Nazis haben ihren Terror auch gegen die eigene Bevölkerung gerichtet!“, stellt der Vortragende fest. „Adolf Hitler erteilte den ,Nerobefehl‘, man müsse auch in der Heimat alles zerstören, denn das deutsche Volk habe es nicht verdient zu gewinnen.“

Der Weg zu den Prozessen

„Die Alliierten sammelten schon während des Krieges Beweismaterial, um nach dem Krieg die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“, weiß Zelnhefer. Auf den Konferenzen von Moskau 1943 und London, vom 8. August 1945, bei dem ein Vier-Mächteabkommen und die „Londoner Statuten“ beschlossen wurden, waren die Grundlagen für die Nürnberger Prozesse, in denen die Prozessordnungen und die Verfahrensschritte festgelegt wurden. „So einen Prozess hatte es bis dahin noch nie gegeben“, betont Zelnhefer. „Man gründete aufgrund dieser Statuten ein internationales Militärtribunal vor dem – einmalig bis dahin in der Geschichte – einzelne Täter für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen wurden.“

Am 8. Oktober 1945 wurden die Prozesse in Berlin eröffnet. Diese Stadt war eine Bedingung der Sowjets. So blieb auch Berlin der ständige Sitz der Prozesse. Aber dass sie de facto komplett in Nürnberg stattfanden, war den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zu verdanken. Sie bestanden darauf, dass das Verfahren in ihrer verwalteten Zone geführt wird. Das war nur ein Grund dafür, warum das eigentliche Verfahren nach Nürnberg verlegt wurde. Zum anderen war der sehr große Justizpalast komplett intakt geblieben. Zum Dritten lag gleich nebenan ein großes Gefängnis. Im Justizpalast standen 80 Verhandlungssäle und 530 Büros zur Verfügung. Sie boten Platz für den großen Stab und alle Mitarbeitenden. Der Prozess war auch die Geburtsstunde des Simultan-Dolmetschens. Die Verhandlungen musste ja in vier Sprachen übersetzt werden: Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Und natürlich war Nürnberg der richtige Ort für den Prozess, wegen seiner symbolischen Bedeutung für die nationalsozialistischen Verbrechen.

Paritätische Richterbank

Die Hauptkriegsverbrecherprozesse fanden vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 in Nürnberg statt. Die Richter und stellvertretende Richter waren für die USA Francis Biddle und John J. Parker, für Großbritannien Sir Geoffrey Lawrence und Norman Birkett, für Frankreich Henri Donnedieu de Vabres und Robert Falco und für die Sowjetunion Iona T. Nikitschenko sowie Alexander F. Woltschkow. Jede der vier alliierten Siegermächte stellte eine eigene Anklagevertretung für das Nürnberger Verfahren. Als Hauptankläger vor Gericht fungierten für die USA Robert H. Jackson, für Großbritannien Sir Hartley Shawcross, für Frankreich François de Menthon und ab 1946 Auguste Champetier de Ribes und schließlich für die UdSSR Roman A. Rudenko. Unter allen Anklagevertretern kam Robert H. Jackson eine besondere Rolle zu, da er bereits im Vorfeld des Prozesses maßgeblich an dessen Organisation und Ausgestaltung beteiligt war. 

Kriegsverbrechen und mehr

Als Anklagepunkte wurden folgende Verbrechen aufgeführt: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Kriegsverbrechen waren erst seit 1907 als Straftatbestand festgelegt worden. Vorher wurde niemand dafür angeklagt“, betont Zelnhefer. Die Kriegsverbrechen wurden unterteilt in Ermordung und Misshandlung von Zivilisten und Kriegsgefangenen, Tötung von Geiseln und Plünderungen. Ein ganz neuer Straftatsbestand war die Erklärung von Organisationen als verbrecherisch, die Reichsregierung, das Führerkorps der NSDAP, SS und SD, SA, Gestapo sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht.

Auf der Anklagebank saßen 21 der ursprünglich 24 angeklagten Vertreter des NS-Regimes. Es waren unter anderem Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Albert Speer und Julius Streicher. Gegen Martin Bormann wurde in Abwesenheit verhandelt, das Verfahren gegen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Robert Ley hatte bereits vor Prozessbeginn Selbstmord begangen. Die Schlüsselfiguren der Verbrechen, Adolf Hitler und Joseph Goebels sowie Heinrich Himmler entzogen sich dem Prozess durch Selbstmord.

Es fanden 218 Verhandlungstage statt. Dabei wurden 236 Zeugen im Gericht befragt und 200.000 eidesstattliche Versicherungen sowie 5.330 Dokumente mit einbezogen. Es ergingen zwölf Todesurteile (gegen Bormann in Abwesenheit, Frank, Frick, Göring, Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, von Ribbentrop, Rosenberg, Sauckel, Seyß-Inquart und Streicher), die am 16. Oktober 1946 vollstreckt wurden. Göring hatte sich der Hinrichtung durch Selbstmord entzogen. Zu Freiheitsstrafen wurden verurteilt: Karl Dönitz, Walther Funk, Rudolf Hess, Albert Speer, Konstantin Freiherr von Neurath, Erich Raeder, Baldur von Schirach. Freigesprochen wurden Hans Fritzsche, Franz von Papen, Hjalmar Schacht. Das Verfahren gegen Gustav Bohlen von Krupp und Halbach wurde eingestellt.

„Das Gericht hatte versucht einen gerechten Prozess nach den Londoner Statuten zu führen“, bewertet Zelnhefer die Nürnberger Prozesse. Darüber hinaus, so fährt er fort, „hatten sie weiterreichende Bedeutung. Hier saßen zum ersten Mal Staaten völlig unterschiedlicher Regierungsformen und Verfassungen gemeinsam über einen besiegten Feind zu Gericht. Aber statt willkürlich Rache zu üben, wurde ein rechtsstaatliches Verfahren angestrebt. Erstmals in der Weltgeschichte wurden einzelne Personen auf völkerrechtlicher Grundlage persönlich zur Rechenschaft gezogen.“

Im Anschluss an den Hauptkriegsverbrecherprozess wurden bis 1949 noch Nachfolgeprozesse geführt. Angeklagt waren wichtige Funktionsträger des NS-Regimes vor allem in Verwaltung, Militär, Justiz, Industrie und SS. In insgesamt zwölf Prozessen wurden 185 hochrangige Mediziner, Juristen, Industrielle, SS- und Polizeiführer, Militär, Beamte und Diplomaten angeklagt. Die Verfahren belegen, in welchem Ausmaß die deutsche Führungsschicht zum Machtsystem der NS-Gewaltherrschaft beigetragen hatte. Durch Begnadigungen in den 1950er Jahren wurden viele der verurteilten NS-Verbrecher vorzeitig aus der Haft entlassen. Von den 24 Todesurteilen wurden 13 vollstreckt.

Prozess mit Wirkung

Die weitere Wirkungsgeschichte der Nürnberger Prozesse stellt Zelnhefer wie folgt dar: Mit der Charta der Vereinten Nationen (UN) vom 26. Juni 1945 erfolgte der Versuch eine dauerhafte Sicherung des Weltfriedens durch ein internationales Völkerrecht zu erhalten. Die von der UN festgelegten Nürnberger Prinzipien dienten fortan als Grundlage für ein modernes Völkerrecht. Das damalige Militärtribunal wurde Vorbild für die Errichtung des heutigen internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

Die Nürnberger Prozesse waren in erster Linie wichtiger Bestandteil der Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die Verbrechen der Nazis. Durch die Prozesse wurden die Verbrechen offengelegt und für alle sichtbar. Leider standen die Menschen in Deutschland den Prozessen skeptisch gegenüber. Von „Siegerjustiz“ war die Rede. „Das war aber nicht der Fall!“, stellt Zelnhefer fest. „Die Nürnberger Prozesse und ihr Nachhall waren wichtig für die Welt, denn es wurde damit Weltgeschichte am Ort der Reichsparteitage geschrieben“, so Siegfried Zelnhefer. Er sieht damit den Beginn einer neuen Weltordnung.