Alles ist ein Wunder

1784
Für Frau Minze ist die Welt groß, bunt und wunderschön. Sie freut sich, diese Welt ohne Scheuklappen, ohne Vorurteile aber vor allem ohne Scham und Angst „neu“ zu entdecken.Foto: Privat
Für Frau Minze ist die Welt groß, bunt und wunderschön. Sie freut sich, diese Welt ohne Scheuklappen, ohne Vorurteile aber vor allem ohne Scham und Angst „neu“ zu entdecken.Foto: Privat

Lebenslinien in Gottes Hand: Ausstieg aus der evangelikalen Gemeinschaft

Ist ein Leben ohne religiöse Gemeinschaft oder ohne Gott möglich? Für Frau Minze* war dieser Gedanke bis vor einiger Zeit noch völlig undenkbar. Ihr Name ist das Pseudonym auf der Social Media Plattform „Twitter“. Dort hat sie mehr als 13.000 Follower und schreibt über ihren Alltag. Ihre Leserschaft ahnte lange nicht, dass sie viele Jahre Mitglied in einer evangelikalen Freikirche war. 

Das ist sie nicht mehr. Vieles hat sich im Jahr der Pandemie und der Zurückgezogenheit für sie verändert. Sie lebt jetzt ein Leben in Selbstbestimmtheit und ohne enge Strukturen. Etwas, dass sie in ihrem bisherigen Leben selten erlebte. „Aufgewachsen bin ich in einer neuapostolischen Familie. Damals in den 80er- und 90er-Jahren war diese Glaubensrichtung noch sehr streng. Ich durfte keine ungläubigen Freundschaften pflegen, nicht auf den Rummelplatz gehen oder bei Fasching mitmachen, denn – so hieß es: ,Wenn Jesus zurück kommt, nimmt er dich nicht mit!‘“ Als Kind war sie ein einsames Mädchen – so erinnert sie sich. Kontakt mit Andersgläubigen hatte sie kaum. In der Schule wurde sie gemobbt, weil sie „anders“ war. Sie empfand es als Last, ein „Gotteskind“ zu sein. 

Erwachsen ohne Gott?

Als sie volljährig wurde, trat sie aus der Neuapostolischen Kirche aus. „Ich wollte bewusst ein Leben ohne Gott führen, den ich als strengen, alles beobachtenden und wertenden Gott erfahren habe.“ Doch die Vergangenheit ließ sich schwer abschütteln. 

Parties, Beziehungen, ein Leben in einer Wohngemeinschaft: Sie unternahm viel und probierte viel aus. Doch gleichzeitig spürte sie auch eine große Unsicherheit und Angst: „Würde Gott mich dafür bestrafen? Würde ich vor seinen Augen bestehen mit meinem Verhalten und für meine Abkehr von seinen Wegen?“

Über eine Freundin kam sie in Kontakt mit einer Freien Evangelischen Gemeinde. Dort hörte sie zum ersten Mal das Evangelium aus der Sicht der Gnade. Und so folgte sie dem Aufruf „nach vorne zu kommen und mein Leben ganz in die Nachfolge Jesu zu stellen“. Sie war begeistert von der Botschaft, dass sie als Mensch nichts tun kann, um Gott zufrieden zu stellen, aber durch den Opfertod Jesu am Kreuz Zugang zu seiner Liebe und seinem Segen habe. Sie entschied sich mit vollem Herzen und Konsequenzen für dieses Leben: „Ich trennte mich nach siebenjähriger Beziehung von meinem nicht-christlichen Freund, gab meinen Freundeskreis auf und fand ein geistliches Zuhause in meiner neuen Gemeinde.“

Neues Leben in der Fremde?

Die nächsten drei Jahre verbrachte sie als Missionarin in Südafrika. „Ich fand das großartig. Ich durfte die Welt sehen und konnte dabei auch noch Gott dienen. Ich war mir sicher: Gott würde dabei seine Verheißung wahr machen, dass er mir einen neuen Partner schenken würde.“ Und tatsächlich: Nach ihrer Rückkehr lernte sie ihren Mann in der Gemeinde kennen. Man könnte ein „Happy End“ vermuten. Doch das Glück mochte sich nicht einstellen. „Wir merkten recht schnell nach der Hochzeit, dass wir doch in sehr vielen Punkten sehr unterschiedlich waren. Aber wir dachten, dass mit Gottes Hilfe und seinem Segen unsere Ehe gelingen und wir dadurch alle Hindernisse überwinden könnten.“

Doch dem war nicht so: Sie erlitt ein berufliches Burnout-Syndrom, eine Fehlgeburt, eine Kinderwunschbehandlung und anschließend zwei schwierige Schwangerschaften. Dazu kamen finanzielle Sorgen, gepaart mit Unzufriedenheit in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau. Und sie unternahm viel, um als Paar und Familie gut zu harmonieren. „In zwölf Jahren haben wir vieles unternommen, um an unserer Ehe zu arbeiten. Seelsorge, gebetet, Bücher gelesen, immer auf Gott geschaut, gewartet, gehofft. Die Hoffnung wurde mit den Jahren aber immer geringer. Es gab keine Veränderung.“ 

Suche nach dem „guten Gott“

In ihr jedoch regten sich Zweifel und eine kleine, leise Stimme nahm sie immer deutlicher wahr – wenn auch mit einem Gedanken der Schuld: „Wo ist er denn, dein guter Gott? Als Christin hatte ich gelernt, dass nur Gottes Wort zählt.“ 

Über die Jahre wurde die innere Stimme aber immer lauter, mein Beten immer weniger und ich fand durch eine zufällige Begegnung den Weg zu Twitter. „Hier lernte ich Menschen kennen, die ein ganz anderes Weltbild hatten. Ich fand es spannend unter dem Pseudonym ‚Frau Minze‘ eine andere Seite von mir zu zeigen. Ich fing an, mich für Klimaschutz, Politik und Feminismus zu interessieren. Alles Themen, die in der Gemeinde kein oder wenig Gehör finden. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus fast schon eine zweite Identität, die zu einer Art Paralleluniversum wurde, in dem ich mich bedeutend wohler, angenommener und gesehener gefühlt habe als in all den Jahren zuvor. Aber der Spagat zwischen diesen beiden Identitäten wurde immer größer, bis ich einen Zusammenbruch bekam.“ 

In dieser schwierigen Zeit, so schien es ihr, hatte sie die Wahl: „Gott – oder meine Gesundheit!“ Und dann begann die Cortona-Pandemie. Gemeindeveranstaltungen und Gottesdienste fanden nicht mehr statt. Und sie erkannte: „Ich vermisste nichts: weder die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen, noch das ,Wort Gottes‘. Im Gegenteil, ich fühlte mich freier, glücklicher und begann, mich kritisch mit dem christlichen Glauben auseinander zu setzen.“

Durch viele Gespräche, Podcasts und Bücher erkannte sie viele andere und für sie neue Sichtweisen auf die Welt, Gott und sich selbst. Sie erfuhr, dass es Christen gibt, die die Bibel nicht wörtlich nehmen, sondern durchaus den kulturellen, historischen Bezug sehen. Sie fand eine große Gemeinschaft von Menschen, die alle an ähnlichen Punkten im Leben waren wie sie selbst. „Ich konnte es kaum fassen, dass es so viele andere gab, mit denen ich mich austauschen konnte. Die ,Frohe Botschaft‘ war für mich keine mehr. Ebenso die Trauer um Entscheidungen, die ich bewusst ,für Gott‘ getroffen habe, die aber im Nachhinein falsch waren. Wo wäre ich heute, wer wäre ich heute?“

Anderes Leben durch die Pandemie

Heute lebt sie ein anderes Leben als vor der Pandemie: „Gott, Jesus, Gottesdienste, Lobpreis, Stille Zeit, Hauskreis. Das spielt in meinem Leben keine Rolle mehr. Spiritualität aber durchaus. Ich gehe jetzt mit sehr offenen, wachen Augen durch die Welt. Sie ist nicht weniger schön oder faszinierend geworden, nur, weil ich nicht mehr an einen personifizierten ,Vater im Himmel‘ glaube. Das ganze Universum ist ein Wunder. Ich staune umso mehr über die Existenz allen Lebens. Und ich freue mich darauf, alles für mich noch Unbekannte ohne Angst und Scham zu entdecken.“

 *Name ist der Redaktion bekannt.