Weltweite und lebenslange Verantwortung

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Willem Adolf Visser ‘t Hooft und die Gründung des Ökumenischen Rates
Willem Adolf Visser ‘t Hooft (undatiertes Porträt, wohl in den 1960er Jahren) und Buchcover der aktuellen Biografie

Lebenslinien: Biografie über Willem Visser ‘t Hooft als Gründer des Ökumenischen Rates

„Die Welt war meine Gemeinde“: Unter diesem Titel erschien die Autobiografie von Willem Adolf Visser ‘t Hooft. Der Niederländer mit dem sperrigen Namen baute den Ökumenischen Rat der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg mit auf. Bereits seit 1924 wirkte der reformierte Theologe in Genf – zunächst als Sekretär beim Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM). 

Geboren im Jahr 1900 – also so alt wie das 20. Jahrhundert – begleiteten ihn die Zeitläufe dieser bewegten Epoche. Genf blieb der Mittelpunkt seines Wirkens. So konnte er ein inneres Gleichgewicht bewahren. Doch blieb er auch öfter in einer beobachtenden Rolle. Seit 1931 übernahm er in der Schweiz die Aufgaben des Generalsekretärs des christlichen Studentenweltbundes. 

1938 wirkte er als Sekretär für den Aufbau des Ökumenischen Rates. Durch den Zweiten Weltkrieg konnte dieser allerdings erst 1948 in Amsterdam verwirklicht werden. Nun wurde  Visser ‘t Hooft zum Generalsekretär gewählt. Er blieb bis zu seinem Ruhestand 1966 in diesem Amt. 1985 starb er.

Distanz des Biografen Zeilstra

So weit die nüchternen Lebensdaten. Eine neue Biografie von Jurjen Albert Zeilstra widmet sich dieser bedeutenden kirchlichen Persönlichkeit. Zeilstra bemängelt, dass frühere Lebensbeschreibungen zu unkritisch gegenüber  Visser ‘t Hooft oder gar direkt von ihm beeinflusst seien. Da wahrt Zeilstra Distanz – manchmal zu sehr, so dass der Gründer des Ökumenischen Rates nur schwer Farbe gewinnt. Dieser erscheint eingebettet in die komplexe Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Doch die Zusammenfassungen in den Einleitungen der Kapitel helfen sehr, den Faden nicht zu verlieren.

Zeilstra beschreibt aber auch, wie  Visser ‘t Hooft auf viele Menschen seiner Umgebung als sehr widersprüchlich wirkte: streng, aber auch charmant und diplomatisch – was ja auch dazu gehöre, um erfolgreich zu sein. Sicher konnte  Visser ‘t Hooft autoritär sein, neigte wohl auch zu Wutausbrüchen. Die Mitarbeitenden nannten ihn den „Patron“. 

Auf Fotos, die Zeilstras Buch immer wieder auflockern, schaut Willem Adolf Visser ‘t Hooft selbst in den ernsthaftesten Verhandlungen oft etwas amüsiert, verschmitzt oder ironisch auf. Allerdings trägt die Biografie wohl eher weniger dazu bei,  Visser ‘t Hooft bekannter zu machen. Denn als Urlaubslektüre ist sie wohl nicht so geeignet, da sie oft detailliert und distanziert beschreibt.

Verhältnis Visser ‘t Hoofts zu seiner Ehefrau Jetty

Zu den stärksten Teilen dieses Werkes gehören die Seiten, die  Visser ‘t Hoofts Verhältnis zu seiner Ehefrau Jetty beschreiben – oder auch ihr Nicht-Verhältnis seit ihrer Eheschließung 1924. „Neben den vielen Scheidungen kennen wir alle die zynischen Männer, die sich in ihre Arbeit vergraben und die Frauen, die sich schließlich resigniert dem Alltag ergeben.“ Dies schrieb sie in einem Brief an Karl Barth, den sie nicht überzeugen konnte, sich mit einer frauengerechten Theologie zu beschäftigen. Auch sie verstummte zunehmend und verließ immer weniger das Haus. Nur ihr Spruch „Frauen wurden nicht geschaffen, um Geschirr zu spülen“, zog Kreise. Dafür gab es ja Haushälterinnen. 

Ebenso wenig war das Verhältnis ihres Mannes zu Karl Barth einfach. Offenbar schien die Schweiz zu klein für diese beiden reformierten Theologen zu sein – sie hakten sich immer mal wieder aneinander fest. Da schnitt  Visser ‘t Hooft Karl Barth bei einem Vortrag das Wort ab, weil dieser schon zu lange und ausschweifend geredet hätte. Barth revanchierte sich, indem er den „Konferenzzirkus“ seines Kollegen für Zeitverschwendung hielt.

Konferenz- und besprechungslästiges Leben

Ziemlich konferenz- und besprechungslastig erscheinen tatsächlich weite Teile gerade in der zweiten Hälfte der Biografie. Natürlich ist es der Verdienst  Visser ‘t Hoofts, in der Blütezeit des Kalten Krieges die orthodoxen Kirchen aus der östlichen Welthäfte zur Zusammenarbeit zu bewegen. Traten bei der Gründung 147 Kirchen dem Ökumenischen Rat der Kirchen bei, so sind es heute 337 protestantische, anglikanische, orthodoxe und alt-katholische Mitgliedskirchen.

Leider gehört die römisch-katholische Kirche nicht dazu. Auch hier lässt sich wieder detailliert das Scheitern der Verhandlungen trotz aller Kontakte  Visser ‘t Hoofts zu katholischen Würdenträgern nachlesen. Und dies trotz aller Hoffnungen, die das Zweite Vatikanische Konzil weckte. 

Viel lebendiger erscheint er in den vorangehenden Kapiteln, in denen er von Genf aus einen Teil des Widerstandes gegen die Nazi-Herrschaft in Europa organisierte. Er hielt Kontakte zum deutschen sowie zum niederländischen Widerstand, aber auch zu Flüchtlingen und Kriegsgefangenen. Direkt nach dem Krieg wirkte  Visser ‘t Hooft als Leiter einer ökumenischen Delegation in Deutschland. Sie nahm im Oktober 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis der neu gegründeten EKD in Empfang – und prägte es intensiv mit, wie Zeilstra herausstellt. 

Bald darauf war Visser ‘t Hoofts Wirken eng verwoben mit seinem Verhandeln zwischen den Fronten der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges. Doch schon vor seinem Ruhestand wirkte sein oft diplomatisches Taktieren gegenüber der nachfolgenden politisch radikaleren Generation als verstaubt. Willem Adolf Visser ‘t Hooft konnte es nicht akzeptieren, dass der Ökumenische Rat als nunmehr etablierte Institution in neue Diskussionen geriet. 

Verantwortung für sein Erbe

Er fühlte sich sehr für sein Erbe verantwortlich. Allerdings beschrieb Visser ‘t Hooft es drastisch als „Ketzerei“, wenn sich Kirchen der Aufgabe entzogen, für die Bedürftigen einzutreten. 

Trennen konnte sich Visser ‘t Hooft kaum von seiner Lebensaufgabe. Er blieb zunächst noch ein Jahr nach seiner Pensionierung im Amt – bis der Rat einen Nachfolger berufen hatte. Dann ging er als Ehrenpräsident Jahre lang täglich in seine einstige Zentrale.

Jetzt hätte er dann endlich Zeit für seine Familie haben können – wie ihm sein schlechtes Gewissen wohl immer wieder geraten hatte. Doch waren nicht nur die drei Kinder schon längst flügge geworden, sondern auch seine Frau Jetty starb bereits 1968. In ihren späten Lebensjahren scheint sie ein wenig extravagant ganze Vormittage in ihrem roten Samtmorgenrock mitsamt Diamantbrosche verbracht und verträumt zu haben. 

Bei allen Schwächen ist es Visser ‘t Hooft gelungen, weite Teile der Welt zu einer Gemeinde zusammenzuführen. Und „zahlreiche Menschen von der Idee der Einheit der Kirche zu überzeugen, als Reaktion auf die Zerrissenheit der Welt“, so das Fazit des Buches. Er akzeptierte die Probleme der Welt „als Herausforderungen für die Kirche.“ Schon diese Sichtweise „beeinflusste die Kirchen und veränderte die Rolle der christlichen Religion in der Gesellschaft“, so Zeilstra. Susanne Borée

Jurjen Albert Zeilstra: Willem Adolf  Visser ‘t Hooft. Ein Leben für die Ökumene. Eva-Verlag 2020, 528 Seiten, 58 Euro; ISBN 978-3-374-06376-5.