Lebenslinien in Gottes Hand: Die Freude am Buch wecken
„Schade, dass ihr so zurückhaltend seid! Ihr sprecht ja gar nicht mit mir. Aber vielleicht mögt ihr mir ja mal schreiben“, sagte die Buchhändlerin Petra Pohl zu den Kindern einer 7. Klasse der Mittelschule ihres Stadtteils. Die Schülerinnen und Schüler besuchten die kleine Buchhandlung in Würzburg mit ihrer Deutschlehrerin, um sich vor Ort eine Ferienlektürenidee vorschlagen zu lassen. Ein aufregendes Unterfangen für die Kinder: Viele von ihnen hatten bis zu diesem Zeitpunkt noch kein eigenes Buch in der Hand gehabt.
„Eine Stunde gequältes Schweigen später haben sich die Kinder verabschiedet“, erzählt die engagierte Buchhändlerin. Sie war in dieser Stunde an ihre Grenze gekommen. Dabei gehört das zu ihrem Arbeitsalltag: Schulkassen in ihrem gemütlichen Laden zu begrüßen und zu beraten. Doch eine solch schweigsame Kinderschar hatte sie bisher nicht erlebt. „Eine Stunde lang haben ich in einen gefühlt leeren Raum geredet – ohne irgendeine Reaktion zu bekommen.“
Traumatisches Erlebnis beim „Deutschen Vorlesetag“
Ein weiteres, einschneidendes Erlebnis hatte die Buchhändlerin, als sie die Kinder einer 1. Klasse besuchte, um ihnen im Rahmen des „Deutschen Vorlesetages“ eine spannende Geschichte vorzulesen. „Etliche der Kinder konnten mir und der Geschichte jedoch nicht folgen. Es war klar ersichtlich, dass sie manche der Wörter nicht kannten. ,Was ist ein Wiesengrund? Was bedeutete es, wenn Blätter rascheln?‘“ Immer öfter bemerkte sie, dass die Kinder über einen stark abnehmenden Wortschatz verfügen und auch einfachen Texten nicht folgen können.
Und dann bekam Petra Pohl Post. Viel Post. Fast die gesamte Klasse der „stummen“ 7. Klässler schrieben ihr Briefe. Sie schrieben von ihrer Scham über ihren mangelnden Wortschatz. Sie erzählten von ihrer Angst, sich zu blamieren, wenn sie sich öffentlich äußern würden. Sie berichteten über das schlechtes Klassenklima, das von Mobbing geprägt war. Und sie bedankten sich bei Pohl, die ihnen bei der Begegnung Fachbegriffe beigebracht hätte. Worte wie „Priorität“ oder „Theorie“ – die sie bisher nicht kannten.
Da saß die Buchhändlerin in ihrer Küche mit den herzergreifenden Briefen und hätte am liebsten geweint. Nie hätte sie mit dieser Offenheit und Ehrlichkeit gerechnet. Nie hätte sie gedacht, dass die Not so groß ist und die Kinder sich so klein fühlen.
„Da war mir klar, dass irgend etwas eklatant schief läuft!“, so die Buchhändlerin. „Aber: Schimpfen kann jeder. Ich jedoch spürte: Ich möchte etwas verändern“.
Neues Konzept, um Begeisterung für Bücher zu wecken
Und so erdachte sie sich ein Konzept, welches Schule und Eltern gleichermaßen unterstützen soll. „Beide Parteien kommen in unserem System an ihre Grenzen“, so Pohl. „Jeder versucht, so viel wie möglich zu machen. Aber Eltern gehen arbeiten und Lehrer haben einen Lehrplan zu erfüllen, in dem für Feinheiten manchmal wenig Raum ist. Dazu kommt, dass ,Bücher lesen‘ meist negativ bei den Kindern besetzt ist“, weiß die Buchhändlerin mit ihrer langjährigen Erfahrung. „Wir müssen heute noch lesen!“, bekommen die Kinder oft zu hören. „Lesen hat etwas mit Leistung zu tun. Mit Benotung und Bewertung. Aber wenig mit Freude und Leichtigkeit an einer Geschichte. Die Lust, in eine Geschichte abzutauchen, fehlt oft. Doch wie soll da je Lust entstehen?“, fragt sie sich. In ihrem Laden begegnen ihr oft Eltern, die Bücher für Kinder aussuchen – anstatt, dass die Kleinen sich selbst ein Buch nach ihrem Geschmack aussuchen. „Mein Kind ist schon viel weiter“, erklären die Eltern dann. Und bewerten somit ebenfalls das Leseverhalten ihres Nachwuchses.
Ihr Konzept der Leseförderung beruht auf vier Säulen: Selbstermächtigung, Einübung von Konzentration, Wortschatzerweiterung und – als vielleicht die wichtigste Säule: Viel Spaß. „Leichtigkeit reinbringen und vor allem den Druck raus nehmen, von diesem: ,Jetzt müssen wir noch Lesen‘.“
Vor der Coronapandemie kooperierte sie mit mehreren Schulen von der 1. bis zur 5. Klasse. Regelmäßig wurde sie von den Kindern in ihrem Laden besucht. Und ebenso ging sie mit Büchern, Spielen und vielen Ideen im Gepäck in die Schulen. „Kinder sind wie Schwämme. Wenn man ihnen mit Spaß und Leidenschaft, mit List und Tücke Bücher nahebringt, lesen sie, ohne es zu merken“, grinst die Buchhändlerin. „Ich komme nicht mit Büchern zu den Kindern, sondern mit Spielen und Ideen. Ich nutze die Schwarmintelligenz der Kinder aus – ob nun durch Herausforderungen bei Wortschatzspielen oder durch Konzentrationsübungen wie etwa „Brainbox“: Das sind Karten, die sich Kinder eine kurze Zeit genau anschauen, um anschließend Fragen genau beantworten zu können oder Gegenstände in Bildern ausfindig zu machen. Der Spaß dabei ist riesengroß.
Lesen ohne Zwang
Meistens ist es das erste Mal, dass sie ohne Druck oder Bewertung etwas lesen – noch dazu quasi ganz nebenbei. „Freude und Lachen ist das Zauberwort. Das öffnet so manches Hirn“, weiß Pohl. Dabei wird so mancher Schatz in diesen Kindern gehoben: Die Freude am geschriebenen Wort und an Geschichten. Das ist alles oftmals neu für Kinder.
In Zeiten der Pandemie entfällt – wie viele andere Angebote auch – ihr wichtiger Beitrag rund um die Leseförderung. Manchmal trifft sie „ihre Kinder“ beim Einkaufen. Dann stellt sie oft fest, dass einige von Ihnen in der langen Zeit des Online-Unterrichtes und der wenigen Begegnungen das „richtige Sprechen“ Zeit verlernt haben. Manche Kinder jedoch kommen in ihren Laden. „Dann plaudern wir ein bisschen und sie erzählen von sich und ihrem Leben.“
Die Leseförderung – so stellt sie nach etlichen Jahren Engagement fest – hört bei den Kindern nicht auf. Sie hat mittlerweile auch Eltern, die an Stelle ihrer Kinder in ihren Laden kommen und Bücher kaufen. Die anfängliche Hemmschwelle vor der oft unbekannten Welt der Bücher wurde durch viel Elternarbeit bei Schulveranstaltungen überwunden. So kann es sein, dass das ein oder andere Elternteil, das sonst eher selten einen Buchladen betreten würde, ein Buch kauft und es abends gemeinsam mit dem Kind liest.
Petra Pohl freut sich jetzt schon auf „ihre Kinder“, wenn es für sie wieder möglich sein wird, in Schulen zu gehen. „Mündigkeit durch Sprache ist etwas, das es gilt, den Erwachsenen von morgen beizubringen. Um in der Gesellschaft aktiv teilzunehmen ist es wichtig, sich ausdrücken und Texte flüssig lesen zu können. Mit ihrer Leseförderung will die Buchhändlerin dieses Wissen, den Spaß und die Leichtigkeit an Sprache und Geschichten weitergeben.
Weitere Infos gibt es in ihrem gegründeten Verein unter