Hoffnung auf ein Ende der Angst

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Frauen beim Friedensgebet in der Minsker Kathedrale am 3. März
Frauen beim Friedensgebet in der Minsker Kathedrale am 3. März

Anna Nötzel von der „Christlichen Vision“ koordiniert Online-Kontakte mit Belarus

Seit dem Jahr 2010 ruft die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am Sonntag Reminiszere Kirchen und Gemeinden auf, in Gottesdiensten und Gebeten in besonderer Weise auf die Leidens-erfahrungen von Christen in anderen Ländern aufmerksam zu machen und Anteil zu nehmen. Der Sonntag Reminiszere an diesem 13. März verdankt seinen Namen dem sechsten Vers des Psalms 25: „Gedenke (lateinisch: Reminiscere), Herr, an deine Barmherzigkeit“. Seit längerem ist geplant, dass Belarus in diesem Jahr im Zentrum der Aufmerksamkeit der EKD stehen soll, um an die gefälschten Wahlen im August 2020 zu erinnern. Seit dem 24. Februar steht nun auch Belarus an der Seite Russlands gegen die Ukraine im Krieg. Wie lässt sich mit der Situation dort umgehen?

Das Beispiel der kirchlichen Friedensarbeit in der DDR „ist für uns besonders inspirierend. Es zeigt uns, dass friedliche Proteste keine Sache von großen Leuten und nicht vergeblich“ sind. So die Theologin und Juristin Natallia Vasilevich. In Deutschland engagiert sie sich als Direktorin des Zentrums „Ökumene“ im Koordinationsrat von Belarus. Und sie arbeitete mit der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zur Vorbereitung des Gedenkens am Sonntag Reminiszere am 13. März zusammen. 

„Auch wir stehen unter Besatzung“, so Vasilevichs Mitstreiterin Anna Nötzel im Videogespräch mit dem Evangelischen Sonntagsblatt. Nur durch massive Unterstützung durch Wladimir Putin habe sich ihr Präsident Alexander Lukaschenko an der Macht halten können. Nur durch massive Repressionen und Verhaftungen konnte er 2020 die monatelangen Demonstrationen unterdrücken – mit Hilfe Moskaus. Nun sei er von Putin abhängig.

Gleichzeitig hat Anna Nötzel zaghafte Hoffnung, da sich nun weltweit so viele Menschen und Völker gegen die Unterdrückung zusammenschließen. „Unbegrenzte Macht für einzelne kann es nicht geben“ – die Folgen sähe man ja gerade.

Anna Nötzel ist von der Russisch-Orthodoxen Kirche zu den Griechisch-Orthodoxen gewechselt. Denn sie wirft ihrer Herkunftsgemeinschaft schon vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar eine zu große Nähe zu der Unterdrückung vor. So sei der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill – auch in Belarus als Kirchenoberhaupt anerkannt – „der Trichter der Propaganda“. 

Seit sieben Jahren ist sie in Tübingen verheiratet und promoviert nun dort an der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Und sie ist Adminis-tratorin der Webseite „Christliche Vision“. Um Kontakt zu halten und Informationen über staatliche Repressionen, die geplanten gewaltlosen Aktionen der Oppositionsbewegung oder die staatlichen Menschenrechtsverletzungen dennoch vor Ort zu veröffentlichen, greife sie meist auf den Messengerdienst „Telegram“ zurück. Moment mal, dort verbreiten sich doch gezielt Hassnachrichten und Falschnachrichten, die von ihren autoritären Gegnern gesteuert scheinen? „Wir waren zuerst da“, erklärt Anna Nötzel. 

Über ihre Kontakte erreichten sie Anfang März gespaltene kirchliche Signale: Die Belarussische Katholische Bischofskonferenz hat sich am 3. März gegen den Krieg geäußert. „Gleichzeitig gibt es merkwürdige Predigten einzelner Bischöfe über die Fastenzeit und kein Wort über die Situation, in der die Ukraine und wir sich befinden.“ Leitende Geistliche protestantischer Freikirchen hätten sich gegen den Krieg geäußert. 

Am 3. März gab es ein Gebet von Müttern gegen den Krieg in der orthodoxen Minsker Kathedrale mit etwa hundert Teilnehmenden (Foto). „Die Polizei hat sich vorbereitet, die Kathedrale wurde von ihnen eingekreist.“, so Nötzel. Etwa zehn Personen wurden danach verhaftet, aber später wieder freigelassen. Ein Ehepaar bekam 15 Tage Haft. Alle Betenden wurden fotografiert und bekamen am nächsten Tag Besuch von der Polizei.

Sie und ihre Mitstreiter wollen den Belarussen „die Wahrheit sagen“. Denn in ihrer Heimat würden so viele Lügen verbreitet. Offiziell gibt es auch für die Belarussen keinen Krieg in der Ukraine. Angeblich nur einen Bürgerkrieg, in dem sich Ukrainer selbst zerfleischen und zivile Ziele attackieren würden. Die Russen und ihre belarussischen Verbündeten kämen als Helfer, um die Ordnung wieder herzustellen. Damit sie diese Lesart nicht überprüfen könnten, hätten viele Soldaten ihre Handys abgeben müssen. 

In Belarus sollen sich ebenfalls alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren als Reservisten bereithalten. Doch bis zum ersten Märzwochenende waren die Grenzen auch für Männer nicht endgültig gesperrt. In der belarussischen Armee gäbe es Widerstand gegen den Krieg. Das Ausmaß sei noch nicht klar, die Armee scheine gespalten, so Nötzel am 6. März: „Für Lukaschenko ist es nicht einfach, belarussische Soldaten in die Ukraine zu schicken.“ Und „Für die Ukraine kämpfen nicht wenige Freiwillige, die vor Lukaschenko geflohen sind. Einer ist gefallen.“ 

Die belarussische Oppositionsführerin und gegen Lukaschenko gewählte Präsidentin Swetlana Tichanowskaja twitterte bereits in den ersten Kriegstagen aus ihrem litauischen Exil: „Mütter von Belarus und Russland, Ihre Kinder werden nicht zu Militärübungen geschickt. Sie werden zum Sterben in den Krieg in die Ukraine geschickt.“

Sie rief zu Protesten gegen den Krieg auf. Tatsächlich sind seit Anfang der Ukraine-Krieges auch in Be-larus wieder viele Menschen trotz aller Gefahren auf der Straße gewesen. Mindestens 900 von ihnen seien bereits am ersten Kriegswochenende verhaftet worden, so Anna Nötzel. Doch viele hielten inzwischen den Krieg schlimmer als das Gefängnis.

Da auch Belarus von den westlichen Sanktionen betroffen sei, könnten auch die Menschen in Nötzels Heimat kaum noch Geld abheben oder mit Geldkarten bezahlen.  Große Inflation. Ausländische Firmen schickten ihre Mitarbeitenden in den unbezahlten Urlaub. „Noch gibt es Lebensmittel, die Frage ist, wie lang?“, ergänzt sie. Noch hät-ten die meisten Menschen Vorräte. „Doch das ist erst der Anfang.“  

Nötzel hofft darauf, dass aus Verzweifelung noch mehr Menschen auf die Straße gehen als vor anderthalb Jahren. „Viele haben Angst, aber man hält es ja nicht mehr aus.“

Nein, selbst hat Anna Nötzel keine Angst, auch mit ihrem Namen für ihre Überzeugung einzugestehen – obwohl ihre Eltern noch in der alten Heimat sind. Sie kann sie nicht mehr treffen, nur noch digitale Videokonferenzen mit ihnen halten.

Vasilevich wiederum sieht viele Christen in ihrer Heimat noch immer eher als spirituelle denn als gesellschaftlich engagierte Gemeinschaft. Dennoch hätte die Erfahrung der Unterdrückung der Regierung auch viele religiöse Menschen „aus ihrer Inaktivität herausgeholt, sie mussten einfach reagieren“.

Sie hofft auf das Engagement ausländischer Kirchen: „Gemeinsame Friedensgebete, öffentliche Solidaritätsaktionen – es gibt so vieles, was Kirchen und Gemeinden tun können und alles ist wichtig, weil es den Menschen in Belarus zeigt: Ihr seid nicht allein. Wir stehen an Eurer Seite.“

Die Zitate von Natallia Vasilevich aus der EKD-Broschüre „Fürbitte für Bedrängte und Verfolgte“. 

Redaktionsschluss am 7. März.