Hunger als Kriegswaffe

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Hungerndes Kind im Tigray, Detail. Foto: pa
Hungerndes Kind im Tigray, Detail. Foto: pa

Gewaltspiralen und Blockaden gegen die äthiopische Region Tigray

Elf Jahre, acht Kilo: Hilflos blickt der Arzt auf ein sterbendes Kind in einem Provinzkrankenhaus im Norden Äthiopiens. Es gibt keine Medikamente mehr und keine therapeutische Nahrung, um es zu retten. Sie können es nur noch palliativ versorgen, also beim Sterben begleiten.

Der Hunger ist zurückgekehrt nach Äthiopien. Gerade in die nördliche Provinz Tigray: Die Zentralregierung blockiert seit Juni 2021 Hilfslieferungen dorthin. Im Schatten des Ukraine-Krieges herrscht dort noch immer ein besonders brutaler Bürgerkrieg seit Ende 2020. Hunderttausende Menschen hungern seit dem. Einem Arte-Fernsehteam um Charles Emptaz und Olivier Jobard gelang vor einigen Monaten eine Reportage von dort. Er geht an die Substanz, da er schonungslos die hilflose Not zeigt.

Zu diesem Sonntag Reminiszere hat die Evangelische Kirche in Deutschland Äthiopien ins Zentrum ihrer „Fürbitte für bedrängte und verfolgte Christen“ gestellt. Denn dort kämpften Christen gegen Christen brutal gegeneinander.

In der tigrayischen Stadt Aksum etwa soll sich seit alttestamentarischen Zeiten die Bundeslade Israels befinden: Die Menschen trinken oft nur noch Weihwasser aus der dortigen Wallfahrtskirche, um sich den Magen zu füllen – Nahrung gibt es auch dort nicht mehr. Auch diese Kultstätte war massiv umkämpft.

Nicht nur dort gab es gezielte Plünderungen und Drohnenangriffe auf religiöse Stätten, sondern dies Muster zeigt sich überall. Die Einwohner Tigrays sind zumeist orthodoxe Christen – aber auch die meisten ihrer Gegner gerade aus der Nachbarprovinz Amhara. Auch sie beansprucht weite Teile Tigrays für sich. Daneben rückten Soldaten der Zentralarmee und aus Eritrea vor. Denn die rund 110 Millionen Menschen in Äthiopien
gehören etwa 80 verschiedenen ethnischen Gruppen an. Die Regionen, aber auch viele Parteien dort sind entlang ethnischer Grenzen organisiert. Sie konkurrieren um die Ressourcen. 

Auch die einzelnen Kirchen und religiösen Gemeinschaften sind oft entlang dieser Linien ethnischer Zugehörigkeiten organisiert. Etwa 43 Prozent der Bevölkerung gehören dem Äthiopisch-Orthodoxen Christentum an, 34 Prozent sind Muslime. Daneben gibt es verschiedene evangelische und charismatische Kirchen, denen jeder fünfte Äthiopier angehört. Regierungschef Abiy Ahmed Ali soll einer gemischt muslimisch-orthodoxen Familie entstammen. Offenbar hat er sich einer Pfingstkirche angeschlossen, die Zusammenhänge Gottesfurcht und materiellen Wohlstand predigt.

Wurzeln des Konflikts

Der Tigray-Krieg begann, nachdem der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2019 für seine Aussöhnung mit Eritrea mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, die für August 2020 geplante landesweite Parlamentswahl und die Regionalwahlen absagte: Die Pandemie mache dies unmöglich. 

Die Regionalregierung Tigrays ließ sie abhalten: Die dort regierende „Volksbefreiungsfront“ (TPLF) gewann erwartungsgemäß fast alle Sitze. Sie bestritt Abiy Ahmed die Legitimation. Regionale Streitkräfte übernahmen Militärbasen und paradierten bewaffnet in der Region.

Doch der Konflikt reicht noch tiefer: Unter dem Zentralismus der vergangenen Jahrzehnte hatten Tigray besonders gelitten. Seit 1989 steht die Region unter dem Einfluss der TPLF. Mit der Abtrennung Eritreas 1991 waren die Angehörigen dieser Sprachfamilie geteilt, doch konnte die Region vom Aufschwung in den 1990er Jahren wirtschaftlich profitieren. Regierungschef Ahmed, ein Angehöriger der Oromo aus dem Süden, versuchte seit 2018, den Einfluss des Nordens zu verringern. 

Im November 2020 eskalierte der Krieg: Äthiopisches Militär drang bis in die Provinzhauptstadt Mekele vor. Systematische und besonders brutale Massenvergewaltigungen folgten: Nach UN-Schätzungen waren mindestens 22.500 tigrayische Frauen davon betroffen. Schnell gab es mehr als 100.000 Geflüchtete Tigray – etwa 17.000 Personen gelangten in den benachbarten Sudan. Andererseits gab es auch Massaker an weiteren Minderheiten durch tigrayische Organisationen. 

Im Juni 2021 gelang es den tigrayischen Soldaten, die Regierungstruppen aus ihrer Provinz zu vertreiben. Sie rückten bis weit in die benachbarten Bundesländer vor, ja sogar bis 200 Kilometer vor die Hauptstadt Addis Abeba und begingen dort ihrerseits Gräueltaten. Diese Gebiete konnten sie nicht halten. Sie wichen wieder zurück.

Nun blockierten zentrale Regierungstruppen und eritreische Streitkräfte die Provinz Tigray. Sie ließen keine Nahrungsmittel mehr durch. Schon zuvor hatten sie dort besonders landwirtschaftliche Anbauflächen zerstört und verbrannt. Seit Ende 2020 ist die Region ferner vom Bankenverkehr und Internet, aber auch vom Strom abgeschnitten.

Insgesamt sollen 500.000 Menschen gestorben worden sein – darunter die meisten an Hunger. Zwei Millionen der rund sieben Millionen Einwohner Tigrays sind auf der Flucht. Und dies zumeist zu Fuß oder mit Eselskarren. Schließlich gibt es kaum mehr motorisierte Transporte: Eine Tankfüllung soll 650 Euro kosten – unerschwinglich!

Zwischen dem 24. März und dem 24. August 2022 gab es einen Waffenstillstand – ohne dass sich die humanitäre Lage im Tigray grundlegend verbessert hätte. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge hungern fast 90 Prozent. 

Dann brachen die Kämpfe wieder auf, wofür sich beide Seiten gegenseitig die Schuld gaben. In den folgenden zwei Monaten gab es weitere 100.000 Todesopfer. Am 2. November 2022 ebnete ein neuer Waffenstillstand auf massiven Druck der USA und vieler afrikanischer Staaten den Weg für Hilfe nach Tigray. Ein Hoffnungsschimmer für die unterernährten Kinder, ihre Mütter und alle Menschen dort! Vielleicht bekommen sie nun mehr als Weihwasser, um ihre Mägen zu füllen. Die Wahlen vom August 2020 sollen wiederholt werden. 

Doch Anfang 2023 gab es im Süden Äthiopiens gewalttätige Übergriffe zwischen Gläubigen der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche und einer Gruppierung, die sich von ihr abspalten wollte. Auch diese Regionen sind von Trockenheit und der Heuschreckenplage betroffen. Auch in äthiopischen Gemeinden in Deutschland gab es intensive Gebete dafür, dass dieser Konflikt sich nicht ausweitet, wie Alle Feleghe Selam-Weyer aus der Kölner Gemeinde weiß. Nach ihren Worten ließ sich der Konflikt Ende Februar wieder beilegen. Auch ein Hoffnungszeichen?

Die EKD-Broschüre ist kostenfrei erhältlich unter: https://www.ekd.de/reminiszere-2023-76380.htm

Arte-Film unter: https://www.arte.tv/de/videos/109207-000-A/aethiopien-tigray-die-region-des-hungers/