Prophetische Bilder vom Blick ins Dunkel

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Kafka-Porträt und Kafka-Denkmal in Prag von 2008. Fotos: epd/F
Kafka-Porträt und Kafka-Denkmal in Prag von 2008. Fotos: epd/F

Lebenslinie vom Sinn der Aussichtslosigkeit: Dem Dichter Franz Kafka zum 100. Todestag

„Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden.“ Der Handlungsreisende Gregor Samsa ist über Nacht zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ geworden. Diese Erzählung „Die Verwandlung“ trug 1912 wesentlich zur Bekanntheit Franz Kafkas bei. 

Wie soll Gregor in seiner neuen Gestalt seinem Beruf nachgehen? Das scheint zunächst das Hauptproblem für seine Eltern und die Schwester zu sein, der er ein Musikstudium ermöglichen wollte. Nun muss ihn die Schwester versorgen, ekelt sich aber zunehmend vor ihm. 

Er kann sie verstehen, sich ihr aber nicht mehr verständlich machen. Trotz dieses Ungleichgewichts findet sich Gregor in seine neuen Verhaltensweisen als Krabbeltier hinein. Doch wer sind die wahren Ungeheuer? Er leidet immer mehr unter Verletzungen und der zunehmenden Vernachlässigung. Vom Geigenspiel der Schwester angelockt kriecht Gregor einmal aus dem Zimmer – und wird zurückgetrieben: Völlig ausgemergelt stirbt er in dieser Nacht. Das feiert die Familie beim gemeinsamen Ausflug.

Natürlich ist Kafkas „Verwandlung“ ein Stoff für Alpträume. Bereits Anfang 2024 setzte die Münchner Villa Stuck (vgl. Sonntagsblatt-Nr. 4/2024) mit Kunstwerken und Installationen seine Dichtungen und Ideen in verstörende Bilder um. Doch Handlung und Bilder stoßen bei Kafka immer wieder auf die sachliche, exakte Sprache. Er war von Haus aus promovierter Jurist. 

Seine Lebensstationen sind mal wieder schnell erzählt, bevor er am 3. Juni 1924 mit gerade einmal 40 Jahren starb. Er entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater baute sich in Prag eine wohlhabende Existenz auf, wurde aber vom Sohn als zu übermächtig empfunden. Die Brüder Georg und Heinrich starben bereits als Kleinkinder. 

Nach dem Abitur, das Franz trotz aller Versagensängste glänzend bestand, studierte er in seiner Heimatstadt Jura. Von 1908 bis 1922 wirkte er in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt in Prag. Er blieb zeitlebens alleinstehend. Beziehungen zu Frauen zogen sich oft kompliziert hin. Er glaubte wohl nur alleinstehend kreativ sein zu können.

Neben der „Verwandlung“ brachte die Novelle „Das Urteil“, die Kafka des Nachts kurz zuvor geschrieben hatte, seinen Durchbruch: Der Kaufmannssohn Georg (der wohl nicht zufällig den Namen von Kafkas früh verstorbenen Bruder trug und der ähnlich wie Gregor klingt) steht kurz vor der Heirat. Er traut sich kaum einen Freund einzuladen, der in der Fremde erfolglos blieb. 

Das berichtet er dem Vater – doch es entsteht ein Disput, der sich bizarr verwandelt. Der zunächst eher harmlos dement scheinende Vater behauptet, schon lange mit Georgs Brieffreund in Verbindung zu stehen. Er macht dem Sohn immer haltlosere Vorwürfe – bis er ihn „jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ verurteilt. Sofort stürzt Georg zum Fluss und „rief leise: ‚Aber liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt‘, und ließ sich hinabfallen.“

Spiegel der Seele?

Natürlich wurden solche Wendungen intensiv psychoanalytisch ausgedeutet. Kafka kannte seinen Freud. Sicherlich litt er besonders unter dem Vater. Trotzdem blieb er lange zu Hause wohnen, obwohl er nicht schlecht verdiente – und dort trotz seiner Zweifel anerkannt war. Er musste nicht an die Front, weil er im Amt unabkömmlich war.

Im August 1917 wurde bei Kafka Lungentuberkulose festgestellt – damals unheilbar. Im Herbst 1918 griff die Spanische Grippe nach ihm, die seine Lungen weiter schädigte.

Die Erzählung „Der Hungerkünstler“ nimmt vielleicht solche Erfahrungen auf. Dieser seltsame Artist lebt in einem Gitterkäfig und wird gut bewacht, dass er wirklich keine Nahrung zu sich nimmt. Doch für ihn selbst ist das Hungern „die leichteste Sache von der Welt“. 

Er leidet darunter, dass man ihm das nicht glaubt. Die Bewunderung für ihn kommt immer mehr aus der Mode – schließlich schrieb Kafka dies 1922 in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg. In seinem zunehmend verwahrlosten Zirkuskäfig hungert der Künstler fast zwanghaft weiter, von den Zuschauern kaum mehr bemerkt. Kurz vor seinem Tod verrät er Arbeitern den Grund des Verzichts: Schließlich habe er die Speise, die ihm schmeckt, nie gefunden. Ansonsten hätte er sich „vollgegessen wie alle“. Nach seinem Tod zieht ein prächtiger Panther in den Käfig – ein Zuschauermagnet.

In einem Gegentext „Ein Bericht für die Akademie“ verwandelt sich ein gefangener Affe zum Menschen. Wesentliche Schritte dazu: Er nimmt seine Unfreiheit an, lernt Alkohol zu trinken und Menschen nachzuäffen.

„Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist.“ So Kafka in einem seiner Aphorismen.

Und bei ihm selbst? Mit Kafkas Gesundheit ging es trotz vieler Kuraufenthalte bergab. Im Winter 1923/24 griff die Tuberkulose auch auf seinen Kehlkopf über – er konnte kaum sprechen und noch weniger schlucken. Es folgte langsame Auszehrung – wobei Franz Kafka wohl immer schon ein gestörtes Verhältnis zum Essen hatte. Kurz vor seinem Tod soll er wichtige Versorgungschläuche aus seinem Körper gerissen haben. Gegen seinen letzten Willen vernichtete der Freund Max Brod die unveröffentlichten Geschichten nicht. Nein, er brachte sogar sie und sich selbst in Sicherheit – angeblich im letzten Zug, der Prag vor der deutschen Besatzung verließ. Kafkas drei Schwestern wurden in Konzentrationslagern 1942/43 ermordet.

Da scheint der Dichter fast prophetisch in die Zukunft geblickt zu haben. Menschen wurden von absoluter Willkür abhängig, durch ein Wort ermordet oder zum Ungeziefer erklärt. Kafka zeigt aber auch auf einer anderen Ebene innere und zwischenmenschliche Labyrinthe auf, in denen die Hauptpersonen scheitern. Oft verwandeln sie sich und sind doch in Erstarrung gefangen. Kann die Leserschaft erfolgreicher sein? 

Kafka setzte Maßstäbe mit seinen Bildern für existentielle Ausweglosigkeit. Doch oft blitzt sein schwarzer Humor auf. Besteht der Lebenssinn darin, den Erwartungen anderer zu entsprechen? Wohin gilt es zu gelangen? „Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man“, heißt es in der Parabel „Heimkehr“, die in Entfremdung scheitert. 

In dem Gegentext „Vor dem Gesetz“ erklärt der Türhüter dem sterbenden „Mann vom Lande“, der viele Jahre lang vergeblich von ihm Einlass zum Gesetz erlangen wollte, auf dessen Frage: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ 

Welche Wege gibt es noch? Reicht Standhalten, um der Sinnlosigkeit zu trotzen? „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr“, so ein Aphorismus: „Dieser Punkt ist zu erreichen.“

Eindrückliche Folgen zu Kafka auch in der ARD-Mediathek. Online viele Texte zugänglich: https://www.textlog.de/kafka