Lebenslinien: Vor 85 Jahren ermordeten die Nazis ihren „ersten Märtyrer“ der Kirche
Er sah nicht ein, für ein weltliches Anliegen zu läuten. Schon gar nicht für den neuen Reichstag, der Anfang März 1933 schon unter massiven Druck der Nazis gewählt wurde und am 21. März zusammentrat. Was jetzt im Fußballjubel der Europameisterschaft wieder für Dispute sorgte, war für ihn lebensbedrohlich. Pfarrer Paul Schneider (1897–18. Juli 1939) trat da auch einem Entschluss seines Presbyteriums, also Kirchenvorstands, entgegen, „um deutlich zu machen, dass wir nicht Staatskirche sind“.
Auch in den kommenden Jahren, verweigerte er sich dem Totalitätsanspruch der Nazis – bis zum Tod. Er war für Dietrich Bonhoeffer 1939 „unser erster Märtyrer“. Dabei hatten die Nazis damals schon unzählige Menschen ermordet, doch nun überschritten sie eine weitere Grenze gegenüber der Kirche.
Zu Schneiders Todestag vor 85 Jahren erschien etwa bei der Evangelischen Verlagsanstalt eine Biografie von Jochen Wagner, die seine Biografie bekannter macht: Ab 1919 studierte Paul Schneider nach dem Kriegsdienst, den er als Leutnant der Reserve verließ, evangelische Theologie. Da war der Student, der selbst aus einer Pfarrerfamilie stammte, eher konservativ geprägt.
Nach seinem ersten Theologischen Examen entschloss sich Schneider zu einem Arbeitseinsatz am Hochofen in Stahlwerken. Ab Ende 1923 – kurz nach dem Höhepunkt der Inflationsnot – engagierte er sich für fast ein Jahr bei der Berliner Stadtmission. Schon bald nach seiner Ordination starb plötzlich Anfang 1926 sein Vater, dessen Nachfolge er auf Bitten der Gemeinde übernahm. Da konnte er endlich Margarete, geboren 1904, heiraten, die er während seiner Studienzeit kennengelernt hatte. In dieser Zeit aber brachen immer wieder Zweifel in ihm auf: „Gott, mein Gott, hältst Du mich denn fest?“, fragt er im Sommer 1926 in seinem Tagebuch.
Obwohl er sich im März 1933 so entschieden gegen das Läuten aussprach, schwankte Paul Schneider in den kommenden Monaten lange in seiner politischen Haltung. „Wenn du unentschlossen bist zwischen zwei Dingen, so wähle das dir weniger bequeme“, so äußerte er. In bekennender Haltung äußerte er sich in seinen Predigten zur Kirchenpolitik.
Wegen zunehmender Konflikte mit seiner Gemeinde wechselte er im April 1934 in den Hunsrück, in die Rheinische Landeskirche. Doch bereits im Juni bei der Beerdigung eines Hitlerjungen wandte er sich gegen die Hoffnung des NS-Kreisleiters, dass der Verstorbene in den himmlischen Sturm Horst Wessels eingegangen sei. Darauf Schneider: Davon wisse er nichts, aber Gott möge den Jungen segnen und ihn in sein Reich aufnehmen. Nach dem Widerspruch des Kreisleiters entgegnete er gar: „Ich lege Protest ein. Dies ist eine christliche Beerdigung, und ich bin als evangelischer Pfarrer verantwortlich dafür, dass das Wort Gottes unverfälscht verkündet wird!“ Er hatte seine Zweifel überwunden. Direkt danach kam er in „Schutzhaft“. Sein Superintendent, also Dekan Gillmann brachte ihn da demonstrativ regelmäßig das Mittagessen – und erhielt seine eigene Absetzung. Schneider kam nach einer Woche wieder frei. Dennoch wurde sein Gehalt gekürzt, obwohl sich sein fünftes Kind ankündigte.
Im März 1935 verabschiedete die zweite Synode der Bekennenden Kirche der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union ein Wort an die Gemeinden gegen das „Neuheidentum“ der „rassisch-völkischen Weltanschauung“, die von allen bekenntnistreuen Pfarrern im Gottesdienst verlesen werden sollte. Das Reichsministerium des Innern verbot dies und verlangte von allen Pfarrern eine entsprechende Erklärung dagegen. Schneider verweigerte diese und wurde wieder inhaftiert – zusammen mit 500 weiteren Pfarrern. Doch vor so vielen zuckte das Regime zurück: Sie kamen schnell wieder frei und verlasen die Erklärung in ihren Gottesdiensten.
Weitere Konflikte und Inhaftierungen folgten: Schneider akzeptierte 1937 nicht seine Ausweisung aus dem Gebiet der Rheinischen Landeskirche, sondern kehrte zum Erntedankfest in seine Heimatgemeinde zurück. Er wurde erneut verhaftet und am 27. November 1937 in das KZ Buchenwald verlegt. Seine Frau Margarete unterstützt ihn: Obwohl sie mit ihren inzwischen sechs Kindern alleine stand, könne sie ihm „nicht vorwerfen, er hätte seine Familie unglücklich gemacht. Ich weiß, dass er uns sehr lieb hat, aber doch nicht anders konnte.“ Beide hielten sich an den Vers „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Rm 12, 21). Er stand auf der Fürbittliste der Bekennenden Kirche.
Er ließ sich nie auf Kompromisse ein: Als er bei einem Fahnenappell den Hitlergruß verweigerte, wurde er schwer verprügelt und in eine Einzelzelle des Arrestgebäudes gesperrt. Trotz schwerster Misshandlungen rief er immer wieder den Mitgefangenen zum Trost Bibelworte zu – er wurde für sie zum „Prediger von Buchenwald“. Am Ostersonntag 1939 rief den Häftlingen auf dem Appellplatz von seiner Zelle aus zu: „Kameraden, hört mich. Hier spricht Pfarrer Paul Schneider. Hier wird gefoltert und gemordet. So spricht der Herr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘“ Dann wurde er zusammengeschlagen.
Über ein Jahr lang blieb Paul Schneider in Einzelhaft. Dabei wäre seine Gefangenschaft aufgehoben worden, wenn er der Ausweisung aus dem Rheinland zugestimmt hätte. Die rheinische Kirche hingegen wollte ihn in den Wartestand versetzen. Doch das entsprechende Schreiben vom Juni 1939 erreichte Schneider nicht mehr. So trat es nie in Kraft, was die späteren Pensionszahlungen für seine Witwe günstig beeinflusste.
Im Lager ermordete ihn der Arzt am 18. Juli 1939 durch eine Spritze. Doch im Gegensatz zur üblichen Praxis wurde Schneiders Leichnam in seine Heimat überführt. Zur Beisetzung kamen mehr als tausend Trauergäste, darunter 200 Pfarrer – viele verbotenerweise im Talar. Das überforderte den Gestapo-Mann, der sie überwachen sollte.
„Manche seiner Worte mögen aus heutiger Sicht hilflos oder naiv, sogar unbelehrbar anmuten“, so der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber im Rückblick. „Damals und heute macht sein Handeln mitunter ratlos. Sein Lebenszeugnis und sein klares Bekenntnis machten Menschen Mut und schenkten in einer ausweglos erscheinende Lage Trost und Hoffnung.“
Margarete Schneider und ihre Kinder wurden zunächst durch die Bekennende Kirche unterstützt. Nach 1945 baute sie von Tübingen aus die Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg mit auf. Die Erinnerung an
ihren Mann hielt sie wach. Ab 1960 lebte sie wieder in ihrer alten
Gemeinde. Sie starb erst Ende 2002. Für ihr Engagement erhielt sie noch kurz vor ihrem Tod das Bundesverdienstkreuz.
Jochen Wagner: Paul Schneider. Zweifler – Christ – Märtyrer. Evangelische Verlagsanstalt 2024, 114 Seiten, ISBN 978-3-374-07526-3, 15 Euro.
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