Anna Becker ist Gefängnisseelsorgerin in der Frauen-Justiz-Vollzugsanstalt in Aichach
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In der Serie „Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung“ stellen wir je einen Bereich der Seelsorge der Evangelischen Kirche in Bayern vor.
Es ist später Nachmittag, als Anna Becker einen Anruf bekommt. Es ist eine Gefängnismitarbeiterin: „Können Sie jetzt gleich mit der Frau Xy reden? Die hat heute einen Brief bekommen, gelesen und jetzt weint sie.“ Anna Becker ist Pfarrerin in der Bayerischen Landeskirche. Seit einigen Jahren ist sie beurlaubt und arbeitet als Gefängnisseelsorgerin in der Justiz-Vollzugsanstalt (JVA) Aichach. Das ist Deutschlands größtes Frauengefängnis.
Becker kennt die Gefängnisroutinen. Die Post erreicht die gefangenen Frauen erst spät nachmittags, dann, wenn Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen schon im Feierabend sind – aber die Seelsorgerin ist da. Die Bediensteten wissen
das zu schätzen. Sie wenden sich in solchen Notfällen an die Pfarrerin. Vermutlich stand eine schlimme Nachricht in dem Brief.
Die Seelsorgerin steht dann der Betroffenen in ihrem Leid bei. Der Bedarf an Seelsorgegesprächen ist hoch in der JVA. „Ich brauche in der Regel gar nicht auf die Damen zuzugehen, die meisten kommen auf mich zu. Manche sprechen mich am Gang an, wenn ich jemanden etwas bringe, wie eine Bibel“, erzählt sie. „Die meisten Damen schreiben einen offiziellen Antrag und kommen dann in mein Büro.“ Becker spricht respektvoll immer von „den Damen“.
Die Pfarrerin arbeitet in der JVA-Aichach schon seit etwa neun Jahren. „Ich tue es immer noch sehr gerne“, bekennt sie. Schon als Studentin hatte sie auf genau dieser Stelle ein Praktikum gemacht. „Damals habe ich gedacht, das möchte ich machen, aber es war unwahrscheinlich, dass es dazu kommt.“ Es gibt in Bayern genau diese eine Stelle im Frauenvollzug für eine Seelsorgerin – im Männervollzug gibt es wesentlich mehr Stellen, da es wesentlich mehr männliche Gefangene gibt. „2013 habe ich das Glück gehabt, dass ich angenommen wurde.“
Die Fassade fehlt
Im Theologiestudium nahm sie an einem Seminar über Strafrecht teil und begann, sich mit dem Verhältnis von Theologie und Bibel zu weltlichen Strafen zu befassen. Sie belegte ein Seminar über Gefängnisseelsorge und besuchte in dessen Rahmen Gefangene. „Ich habe schnell gemerkt, dass ich diese Arbeit sehr gerne mag, weil die Menschen, die im Gefängnis sind, mir gegenüber keine Fassade aufbauen. In einer Kirchengemeinde erhalten viele Menschen solche Fassaden gegenüber der Pfarrerin oder dem Pfarrer aufrecht. Im Gefängnis geht es in den Gesprächen sehr schnell und sehr direkt um das Existentielle.“
„Als Theologin liebe ich Erzählungen. Und Lebensgeschichten bekommt man im Gefängnis ganz viele zu hören!“ Sie beginnen häufig schon früh im Leben schlecht, weil es massive Gewalterlebnisse gab. „Es sind Geschichten, bei denen Menschen mit einem großen Paket an Trauma ins Leben gestartet sind und es dann beispielsweise nicht geschafft haben, ohne Drogen zu leben. Das zieht Kriminalität nach sich.“ Manche Frauen kommen aus einem Milieu, in dem ihnen von klein an Kriminalität nahegelegt wurde.
Gewalt als Ausweg gesehen
Aber im Frauengefängnis gibt es auch Frauen, die in völlig destruktiven Beziehungen gefangen waren und keinen Weg der Befreiung gefunden haben, der legal gewesen wäre. Ein Motiv, das immer wieder auftaucht, ist häusliche Gewalt. Es komme dann häufig vor, dass Frauen es nicht schaffen, ihren gewalttätigen Ehemann zu verlassen. „Wenn der Mann sich an den Kindern
vergreifen will, kann es unter Umständen sein, dass sie den einzigen Ausweg darin sieht, den Partner zu töten. Da sind Situationen dabei, die sind aus der Sicht der Betroffenen Notwehr, aber im Strafrecht gelten sie als Mord. Häufig kann sich eine Frau in der direkten Übergriffs-situation selbst nicht wehren. Sie wartet dann zum Beispiel darauf, dass der Mann schläft. Das ist vor dem Gesetz ,Heimtücke‘ und damit ein Mordmerkmal“, erläutert die Pfarrerin.
Ein Stück Normalität
Was bedeutet sie als Seelsorgerin für die Frauen in der JVA? „Manche sagen mir, ich sei für sie ein Stück Normalität, einfach einmal normal reden zu können“, berichtet Becker. „Wer bei mir ist, kann sich hundertprozentig auf meine Schweigepflicht verlassen. Wer mir eine Lebensgeschichte erzählt, weiß, ,mir wird erstmal geglaubt.‘“ Dass sei für die Frauen wichtig. „Ich hindere die Menschen auch nicht daran, mich anzulügen. Ich überprüfe sie nicht. Es geht um die Geschichte, die die Frauen mir erzählen.“ Manche Frauen sind bereit, im Gespräch mit der Seelsorgerin ihr bisheriges Leben anzusehen. „Wir suchen dann gemeinsam nach einem Weg“, so die Pfarrerin.
Natürlich gibt es in der Anstalt auch Psychologen, mit denen die Frauen sprechen. Aber im Unterschied zu denen unterliegt Becker der Schweigepflicht. „Alles was die Damen einem Psychologen sagen, kann weitergegeben werden; bei mir nicht! Es kann schon mal sein, dass gerade deswegen eine Frau auch mal sauer auf mich ist, weil ich ihr nicht helfen kann, wenn es beispielsweise um Vollzugslockerungen geht. Ich kann ja gar nichts aus dem Gespräch weitersagen.“
Biblische Geschichten
Auf der anderen Seite sei Seelsorge auch sehr frei in dem, wie Gespräche geführt werden. „Ich kann Gespräche führen, die eine Ähnlichkeit mit psychotherapeutischen Gesprächen haben. Aber wir können auch über die Bibel sprechen.“ Sie erzähle immer wieder biblische Geschichten, die zu dem passen, was eine Frau ihr berichtet. „Es kann für diese Frauen bedeutsam sein, ihre Existenzfragen in einem religiösen Rahmen zu stellen.“ Und ganz wichtig: „Ich kann auch religiöse Rituale einbauen, zusammen mit der Dame in die Kirche gehen, eine Kerze anzünden, beten oder ich kann sie segnen.“ Manche Damen entdecken erst in der Gefängnissituation, dass diese Rituale ihnen was geben, so Becker.
Kontakt: https://www.gefaengnisseelsorge.de
Weiterführende Informationen:
https://handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/handlungsfeld4.php