Novembernebel begrenzte die Hoffnung

186
Die originale Paulskirchenverfassung vor einem Bild der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Foto: epd/F
Die originale Paulskirchenverfassung vor einem Bild der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Foto: epd/F

War vor 175 Jahren „Der Kampf für eine neue Welt“ der März-Revolutionen gescheitert?

Es schien ein Konflikt zwischen den Kräften des Lichts und der Finsternis zu sein: Diese Überhöhung erfuhr in Bayern ein Streit im Jahr 1831 darüber, wie Kinder aus konfessionellen Mischehen zu erziehen seien. Kein Zufall, so Christopher Clark in seinem opulenten Geschichtswerk „Frühling der Revolution“. In den Jahrzehnten des „Vormärzes“ vor 1848 geschah solche absolute Weltdeutung auch bei banalen Konflikten auf heilsgeschichtlicher Bühne.

Besser: in pseudo-religiöser Sprache, auch wenn die Konflikte noch irdischer waren. Konkrete politische Ansprüche oder ökonomische Forderungen wurden zu Fragen gemeinschaftlicher Erlösung oder Verdammnis hochstilisiert: Die Gegner waren geradezu Ausgeburten der Hölle, die sich dem Heilsplan entgegenstellten. Und dies gerade, weil sich „religiöse Erfahrungen zum Teil von den Institutionen theologischer und kirchlicher Autorität gelöst und es ihnen so ermöglicht hatten, in die Welt auszuströmen“, so Clark. Sicherlich hat es auch mit der Hegel‘schen Weltsicht zu tun. 

 Den Freiheitskampf der Polen etwa erzählte Adam Mickiewicz um 1830 als „eine heilige Geschichte, in der das Leiden und die Knechtschaft der polnischen Nation in das Narrativ einer Reise zur Erlösung eingewoben war“. Auch bei dieser Vorgeschichte der Revolution vor 175 Jahren sind wir mitten drin in Clarks Werk: Denn im gesamten ersten Drittel stellt der australisch-britische Historiker die Geisteshaltungen und Gründe dar, die überhaupt erst zum Ausbruch dieses Vulkans führten. Allein dies hat den Umfang eines „normalen“ Buches gut 300 Seiten.

Auf mehr als tausend Seiten webt Clark einen detaillierten Teppich des Geschehens in fast ganz Europa. Er erzählt dies nicht als heldenhaftes Scheitern edler Revolutionäre. Da bezieht er Stellung gegen bisherige historische Deutungen wie auch in dem Vorgänger-Werk „Die Schlafwandler“ von 2013 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. 

Die Revolutionäre waren voller nationaler Ansprüche, doch gleichzeitig war es eine europäische Revolution, die sich mit der Geschwindigkeit der neuen Eisenbahnen von Paris und Palermo ausbreitete: Gab es gemeinsame Pläne, fand eine gegenseitig Ansteckung statt „oder wuchsen sie auf dem Boden vergleichbarer Verhältnisse unabhängig voneinander“? 

Schon in den Jahren zuvor braute sich ein fast perfekter Sturm zusammen aus dem ungezügelten Bevölkerungswachstum und der Not, in die die allermeisten hineingeboren waren. Missernten verstärkten sie. Daenben standen unvorstellbare Gewinne einiger Erfolgreicher, die gleichzeitig politisch keine Anerkennung fanden. Und dem Zögern einer überforderten Obrigkeit, die sowohl Arme als auch Neureiche fürchtete, anstatt alte Regeln an neue Gegebenheiten anzupassen. Da staute sich die Wut an.

Großartige Verknüpfung

Nach diesen materiellen Grundlagen stellt Clark unter dem zweiten Hauptkapitel „Ordnungskonzepte“ viele kulturelle und ideengeschichtliche Wurzeln dar, die zur Revolution führen sollten: Welchen Wandel erfuhr religiöse oder politische Zugehörigkeitsgefühle? Was verstanden die Zeitgenossen unter Unfreiheit? Nicht das Elend der letzten Leibeigenen oder der Sklaven in Übersee, sondern eigene Beschränkungen. 

Eine detailliertere Gliederung hätte dem Werk gutgetan und ihm mehr analytische Tiefe verschafft: Nur zehn Kapitel finden sich im Inhaltsverzeichnis. So wirkt das Buch wie eine Aneinanderreihung farbenprächtiger Geschichten, deren Details ineinander verschwimmen, da sich zu wenig Ankerpunkte finden. 

Da fällt es schwer, Einzelsträngen wie der Paulskirchenversammlung in Frankfurt, der Ausarbeitung von Verfassungen oder den nationalen Erhebungen zu folgen oder gar Details wiederzufinden. Dennoch webt sie Clark zu einem farbenprächtigen Teppich zusammen. Trotz der Fülle an Fakten und Ereignisse schreibt er fesselnd wie in einem Roman: anschaulich und spannend, hintergründig und lebendig. 

Und war das Drama nicht schließlich vom Misserfolg überholt? „Die Revolutionäre hatten den Gegner unterschätzt“ und ihre politischen Ziele nur kurzfristig erreicht: Die Monarchen weigerten sich, langfristig ihre Macht durch Verfassungen oder Parlamente einschränken zu lassen. Sie scheinen oft präzise geplant zu haben, wann und wie sie möglichst effektiv zurückschlugen oder wie sie ihre Kräfte bündelten, während die Revolutionäre oft vom Lauf der Ereignisse überrollt wirkten.

Demgegenüber sahen viele Liberale bald ihr Ziel einer ökonomischen Freiheit und einer konstitutionellen Monarchie erreicht. Als einen wesentlichen Grund für das Scheitern der Revolution sieht Clark die Ängste – der Radikalen vor Verrat, der Gemäßigten vor dem „Schreckgespenst weiterer Massengewalt drohte“ oder einer Plünderung ihres Besitzes. Das stand im Gegensatz zu den Forderungen der Besitzlosen, auch ihren Anteil am Kuchen der Industriellen Revolution zu erhalten.

Scheitern oder Aufbruch?

Gerade im November vor 175 Jahren waren die 1848-er Revolutionäre deutlich mit Niederlagen konfrontiert: Kaisertreue Regimenter eroberten Anfang dieses Monats 1848 Wien zurück. Am 9. November richteten sie den Volkshelden Robert Blum, ein charismatischer Redner und Paulskirchen-Abgeordneten hin. Gleichzeigt ließ der Preußische König in diesem Nebelmonat die Abgeordnetenkammer pausieren – und ins beschauliche Örtchen Brandenburg verlegen. Er setzte ein konservatives Kabinett ein. In Frankreich stand Napoleon III. vor seiner überwältigenden Wahl zum Staatspräsidenten – und machte sich 1851 mit einem Staatsstreich zum Kaiser.

War der November 1848 ein Monat der Niederlagen – so wie im März die Revolution von einem Erfolg zum nächsten geeilt war? Doch Clark hält diese im Gegensatz zu anderen Historikern nicht für gänzlich gescheitert: Sie bewirkten ein Aufbrechen erstarrter Strukturen durch eine tiefgreifende Modernisierungen, neue Ideen und Bewegungen. 

Zwar schafften es Liberale und Radikale schon damals nicht, einander zuzuhören, so Clark, aber langsam setzte sich ein pragmatisches Verständnis von Kompromissen und Zweck-Koalitionen durch. Zwar ging die Verelendung der Massen weiter, aber auch die Idee der Emanzipation der Juden oder die Abschaffung der Sklaverei nahm an Fahrt auf. Vor 175 Jahren hatte niemand „ein sicheres Gespür für die Richtung, in die es gehen soll“. Das „Einbrechen von Gewalt, Utopie und Spiritualität in die Politik“ aber ließ sich holpernd überwinden.

Christopher Clark: Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Gebundene Ausgabe; dva-Verlag 2023, 1.168 S., 48 Euro, ISBN 978-3-421-04829-5.