Neue Lieder oder bewährte Traditionen?

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„Praxis Pietatis Melica“ von Johann Crüger mit vielen Texten von Paul Gerhardt: Diese Sammlung war eine der langlebigsten und erschien bis 1736, Ausgabe von 1690. Gesangbucharchiv der Uni Mainz. Foto: epd/F
Detail der „Praxis Pietatis Melica“ von Johann Crüger mit vielen Texten von Paul Gerhardt: Diese Sammlung war eine der langlebigsten und erschien bis 1736, Ausgabe von 1690. Gesangbucharchiv der Uni Mainz. Foto: epd/F

Vor 500 Jahren zeigen Gesangbücher der Reformation neue Wege – wohin führen sie?

Vor genau 500 Jahren entstand das erste Evangelische Gesangbuch: Zum Jahreswechsel 1523/24 kam eine erste kleine Liedsammlung der Reformation heraus. Anstoß dazu war jedoch zunächst nicht die Idee, einen allgemeinen Gemeindegesang zu schaffen, damit wohlklingende „Antworten auf das Wort Gottes“ zum Himmel steigen konnten. Nein, das entwickelte sich erst danach, so die Autoren des aktuellen Sammelbandes „Singt dem Herrn ein neues Lied: 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch“. 

Aber der unmittelbare Impuls bestand in der Hinrichtung zweier Augustinereremiten, die die Reformation unterstützten: Am 1. Juli 1523 erlitten Hendrik Vos Vos und Johannes van Esschen auf dem Marktplatz zu Brüssel den Feuertod. Als Antwort darauf dichtete Luther die Verse „Ein neues Lied wir heben an“.

Dieses sollte nun auch wirklich gesungen werden – so kam es zu einer ersten Sammlung, um „deutsche Psalmen“ für das Volk zu schaffen. Durch den Gesang konnte die Botschaft der Reformation noch einmal weitere Verbreitung finden. 

In einem „Achtliederdruck“ schuf der Nürnberger Drucker Jobst Gutknecht dann zum Jahreswechsel eine erste kleine Sammlung. 1524 folgten erweiterte Liedsammlungen als Drucke in Erfurt und dann auch Wittenberg: In dem „Geystliche gesangk Buchleyn“ waren es dann schon 32 Werke, darunter 24 von Luther selbst. In einem programmatischen Vorwort betonte der Reformator dort die Bedeutung des Gesangs zur Verbreitung des Gotteswortes und zum Gotteslob.

Seitdem fanden rund 30.000 Lieder Eingang in irgendein deutschsprachiges evangelisches Gesangbuch. Denn zunächst hatte auch jedes Territorium seine eigene Sammlung. Wer aber entschied nun, was jeweils dort hineingehörte? Muss die Sammlung von einer Kirchenleitung akzeptiert werden? Können es private Autoren oder Verlage veröffentlichten? Oder die Gemeinden bestimmen? Was gehört unbedingt dort hinein – was nicht?

Intensiv beschäftigt sich nun eine Kommission mit diesen Fragen. Der Plan: Die Evangelische Kirche in Deutschland will ein neues allgemeines Gesangbuch herausbringen – nachdem die letzte Ausgabe 30 Jahre zurückliegt. Seit Anfang 2020 tagt dazu eine Kommission: Jede Landeskirche konnte je nach Größe drei bis fünf Mitglieder dorthin entsenden. Sie sollen in ihrer Zusammensetzung möglichst dem Querschnitt der Kirchenmitglieder entsprechen. Hinzu kommen weitere Experten aus den entsprechenden Fachverbänden: etwa aus der Posaunenarbeit oder der Popularmusik, der Kinder- oder Jugendarbeit – insgesamt 150 Mitglieder. 

Glaubenswege und Psalter

Traditionelle Lieder, so sieht es aus, werden in einem neuen Gesangbuch weiterhin breiten Raum einnehmen. Genauso wie der Text der Luther-Bibel sollen diese Glaubenslieder in der Tradition der Reformation aber „behutsam“ modernisiert werden – wie es ja auch immer schon je nach den Bedürfnissen einer jeden Generation geschehen sei.

Nicht nur Luther schuf neue Glaubenslieder: Neben und nach ihm ging es mit der Liedproduktion erst richtig los. Schon die ersten gedruckten Liedsammlungen der „Böhmischen Brüder“ von 1531 fanden ebenso reißenden Absatz. Die Reformierten griffen auf den „Genfer Psalter“ zurück, der zunächst 1573 und dann noch einmal zwei Jahrhunderte später in einer Neudichtung ins Deutsche übersetzt wurde. 

Der Dreißigjährige Krieg bedeutete dann eine „Urerfahrung“ auch für die Liedproduktion: Unübertroffen aus dieser Epoche strahlen die Lieder Paul Gerhardt zu uns herüber. Die bildreiche und einfühlsame Sprache ist ein besonderes Merkmal seiner Dichtung. Und seine Fähigkeit der direkten Ansprache an Herz und Seele der Gläubigen, „ohne dabei zu tief in mystische Gefilde einzutauchen, sondern stets der lutherischen Theologie treu zu bleiben“, so der Sammelband zum 500-jährigen Jubiläum des Gesangbuches.

Ähnliche Schwerpunkte setzten die großen Dichter des Pietismus wie August Hermann Francke oder Gerhard Tersteegen. In der Herrnhuter Brüdergemeine fanden wiederum teils täglich Singstunden statt. Dessen Gründer, Nikolaus Graf von Zinzendorf, dichtete selbst rund 2.000 Lieder. Jede neue Epoche und Denkrichtung von der Aufklärung bis zur modernen Bewegung für das „Neue Lied“ schuf weitere Akzente. 

Nachdem zunächst jede einzelne Gemeinde ihren Ehrgeiz darin zu setzen schien, eine eigene Liedsammlung zu besitzen, begannen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Überlegungen zu einheitlichen Gesangbüchern. Schnell kam 1854 eine Sammlung mit 150 „Kernliedern“ heraus. Die allermeisten von ihnen finden sich auch heute noch im Evangelischen Gesangbuch. 

Doch darüber hinaus erwies sich der Weg zu einem einheitlichen
Liedbestand als äußerst mühsam. Erst 1928 führten zahlreiche Landeskirchen das „Deutsche Evangelische Gesangbuch (DEG)“ ein, obwohl es bereits 1915 gedruckt vorlag. 

Nach 1945 herrschte ein dringendes Bedürfnis an einer Neuauflage, die 1950 als „Evangelisches Kirchengesangbuch (EKG)“ erschien. Von den 394 Liedern im Stammteil waren 238 schon im DEG enthalten. Ab 1980 war eine Neuauflage in der Diskussion, die dann 1993 fertig war – mit 535 Liedern im Stammteil.

Neue digitale Chancen

Die Corona-Zeit verzögerte die Arbeit: Die Kommissions-Mitglieder kamen teils nur online oder hybrid zusammen. Und das Ganze soll nun „eine repräsentative, akzentuierte Vielfalt anbieten“. Alle Liedepochen sollen dort vertreten sein – in ökumenischer Weite ebenso wie beim Blick auf regionale Besonderheiten.

Die Suchdatenbank für Chorsätze (such-wer-da-will) vom Chorverband in der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK) befindet sich weiterhin im Ausbau. Bereits im Sommer ließen sich dort 8.000
Sätze finden. Die größte Neuerung des neuen Gesangbuchs ist ebenfalls eine Datenbank mit bis zu 2.500 offiziellen Liedern – wahrscheinlich in Form einer App. 

Ein Fünftel davon soll wie bisher in einem gedruckten Buch zugänglich sein. Die genaue Verknüpfung zwischen beiden Vermittlungsformen ist da noch in der Diskussion. Und wann soll das alles fertig sein? 2030, so lautet die derzeitige Prognose.

Mehr zur Geschichte des Gesangbuches voraussichtlich beim Jubiläum zum Jahreswechsel 2023/24.

Johannes Schilling und Brinja Bauer: Singt dem Herrn ein neues Lied: 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch, Evangelische Verlagsanstalt 2023, 296 S., ISBN 978-3-374-07415-0, 25 Euro.