Moralisches Tun, um gut anerkannt zu sein?

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Buchcover. Rogier van der Weyden: Das Jüngste Gericht (Detail), um 1450. Bilder: PR/akg
Buchcover. Rogier van der Weyden: Das Jüngste Gericht (Detail), um 1450. Bilder: PR/akg

Hilft uns „Die Erfindung von Gut und Böse“ heute noch weiter? Eine Spurensuche

Menschen mussten seit Anbeginn ihrer Entwicklung zusammenarbeiten, um erfolgreich zu sein – schon an der Schwelle der Entwicklung zum halbwegs vernunftbegabten Wesen war das für uns als „Mängelwesen“ effektiv. Dazu brauchte die Gruppe gemeinsame Ziele, bald auch kooperative Verhaltensweisen und gemeinsame Normen. 

„Die Erfindung von Gut und Böse“ lautet dazu der prägnante Untertitel von Hanno Sauers aktuellen großem Wurf über „Moral“. Auf knapp 400 Seiten schreibt er eine Geschichte unserer Wertvorstellungen – die sich seit Urzeiten kulturübergreifend in ziemlich ähnliche Richtungen entwickeln sollten.

Unzählige Studien aus der Verhaltensbiologie, der Psychologie, der Archäologie und vieler weiterer Forschungsbereiche verknüpft der junge Philosophiedozent (*1983) aus Düsseldorf, der in Utrecht lehrt, zu einem Argumentationsstrang. Dazu ist sein Werk auch noch flüssig geschrieben – eine wirklich erwähnenswerte Ausnahme bei diesem Thema – ohne seicht zu werden. 

„Die Evolution der Kooperation erklärt, warum unsere Moral gruppenorientiert ist“, fasst Sauer zusammen. Neben der Unterstützung durch Verwandte, die die Weitergabe eigener Gene sicherstellt, lassen sich durch „kooperatives Verhalten innerhalb unserer eng umschriebenen Gruppe die Bedingungen schaffen, unter denen die Vorzüge moralischen Verhaltens dessen Kosten überwogen“. So konnte eine Horde von Frühmenschen gemeinsam etwa ein Mammut jagen. Allein hätte dies niemand geschafft. Aber wenn nur einer aus der Gruppe sich als Trittbrettfahrer kaum bei der mühsamen und gefährlichen Jagd einbrachte und trotzdem seinen Anteil bekam – war das nicht unfair?

Da setzt dann schnell soziale Kontrolle ein, so Sauer. Weiter entwickeln sich Sanktionen und Strafen. „Geteilte Werte und Marker der Identität schafften das dafür notwendige soziale Vertrauen.“ Wir erzogen uns selbst – ja ließen die kooperativsten und nicht die rücksichtslosesten Mitglieder einer Gruppe den größten Erfolg haben – fast also eine Selbstzüchtung. 

Nun wurden jedoch die Gruppen größer und unüberschaubarer – spätestens seit dem Beginn der Sesshaftigkeit vor rund 5.000 Jahren. Eliten konnten von Überschüssen leben und Vorräte verwalten. Konnten sie ausgewogen rechtfertigen, warum dies so sein musste?

Und was hat Gott mit der Entwicklung der Moral zu tun? Schließlich schmückt das Buchcover ein Bild, auf dem Kain den Abel erschlägt – quasi zu Beginn dieser Zeitenwende als Konflikt zwischen Bauern und (nomadischen) Hirten, die die beiden Brüder präsentieren? 

Sauer selbst ist Philosoph und laizistisch geprägt, wie er auch ausdrücklich gegenüber der Zeitschrift „zeitzeichen“ betont, der er sich zum Interview gestellt hat. Die Vorstellung eines allwissenden Gottes und seines Gerichts dient für ihn eher als ein Sanktionsmechanismus, um willkürliche Regeln zu rechtfertigen. Religion kann uns ein Gefühl vom Sinn des Lebens geben, aber auch Kriege, Ungerechtigkeit und Gewalt legitimieren. 

Doch dem Christentum gelang es, die Institution der Sippe und Verwandtschaft zu unterlaufen und neue Gemeinschaftsformen zu schaffen – eine ungewollte Voraussetzung für mehr Individualismus. Der Aufbruch in die (europäische) Moderne vor rund 500 Jahren, die Besinnung auf ein autonomes Individuum schufen Voraussetzungen „willkürlich-ererbte Privilegien infrage zu stellen“. Das bisherige Gleichgewicht geriet ins Wanken.

Bald wurden auch die Technologien zur Zerstörung immer effektiver – der Kampf gegen Gewalt, „Diskriminierung und Ausbeutung einer aufgeklärten Gesellschaft zunehmend moralisch unerträglich“. Das ersetzte das Bild von der Seelenwaage des Jüngsten Gerichts. Nun bietet die moderne Entwicklung weitere Wegmarken – vor ungefähr 50 Jahren als erste Lehren aus Holocaust, totalem Krieg und erneutem Wettrüsten gezogen wurden. 

Umwälzung aller Werte?

Doch ganz aktuell geschieht ein Zerfall bisheriger Werte: Althergebrachte Moral-Vorstellungen sind als schädlich oder hinderlich erkannt – und ehemals neutrale Verhaltensweisen erscheinen nun als anstößig. 

Damit sind wir mitten in der Gegenwart, deren Problemlage Sauer fast in dem gesamten letzten Viertel des Buches diskutiert: „Wir sehen eine Auseinandersetzung zwischen Gruppen, die sich nach innen freundlich-kooperativ und nach außen argwöhnisch-feindselig verhalten, die eigenen Normen und Werte mit teils harschen Sanktionen verteidigen und nur denen Vertrauen schenken, mit denen sie sich identifizieren.“ Gleichzeitig sind uns die „geopolitischen Probleme … über den Kopf gewachsen“.

Neues Stammesdenken setzt ein – gerade weil aktuelle Probleme so komplex sind, dass niemand sie mehr durchschauen kann. „Innerhalb unserer jeweiligen Gruppen kommt es darauf an, Loyalitätssignale zu senden, die von anderen Stammesmitgliedern wahrgenommen und als Zeichen der Zuverlässigkeit verstanden werden können.“ – gerade, „indem sie nicht ohnehin von jedem Menschen akzeptiert werden, sondern gruppenspezifisch bleiben“. Früher hatten diese Funktion laut Sauer die Religionen inne, deren Ausdrucksformen für Außenstehenden unlogisch erschienen.

Grundsätzlich würden Menschen aller Kulturen dieselben fundamentalen Werte schätzen, so Sauer: „Persönliche Sicherheit und Freiheit, Fürsorge und Toleranz, Glück, Autonomie und Selbstverwirklichung“ sollten ins Gleichgewicht kommen. 

Wie aber kommt es dann so oft zu institutionell legitimierter Gewalt wie Sklaverei, Menschenopfer und Vernichtung anderer? „Es gab immer schon privilegierte gesellschaftliche Gruppen, die ihr skrupelloses Verhalten mit ausgeklügelten Ideologien rechtfertigten, als alternativ und unvermeidlich darstellten, dessen Folgen verharmlosten oder dessen Opfer dehumanisierten.“

Da unterscheidet Sauer zwischen individuell bösen Menschen und „Menschen, die in sozialen Strukturen operieren, die kollektiv etwas sehr Böses verursachen.“ Da sind wir nahe bei der „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt. Sind aktuelle Verwerfungen und Wertediskussionen ebenso banal? 

Geht es um Gruppenidentitäten anstatt um die Verbesserung der Welt? Ist es „der Kampf der Moderne mit sich selbst“? Oder lassen sich Wertvorstellungen und Weltdeutungen wieder miteinander ins Gleichgewicht bringen?

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse, Piper 2023, 26 Euro; 396 S., IBAN 978-3-492-07140-6.