Ein hörendes Herz

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt zur Bitte des Salomo um ein weises Herz

Und der Herr erschien Salomo zu Gibeon im Traum des Nachts, und Gott sprach: Bitte, was ich dir geben soll! Salomo sprach: … So wollest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, dass er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist. Denn wer vermag dies dein mächtiges Volk zu richten? Das gefiel dem Herrn, dass Salomo darum bat. Und Gott sprach zu ihm: Weil du darum bittest und bittest weder um langes Leben noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, auf das Recht zu hören, siehe, so tue ich nach deinen Worten. Siehe, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, sodass deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird. 

aus 1. Kön 3, 5–15

Die Szene kennen wir aus vielen Märchen: Eine gute Fee erscheint, und jemand hat einen oder gar drei Wünsche frei. Reichtum, Macht und Schönheit stehen da meist ganz
vorne, und wie die Geschichte ausgeht, zeigt wohl am eindrücklichsten das Märchen vom Fischer und seiner Frau.

Der junge König Salomo scheint aber damals schon so weise gewesen zu sein, wie wir ihn kennen: Auf Gottes Angebot hin wünscht er sich nicht das Naheliegende. Obwohl oder gerade weil er sich mit seiner Aufgabe als König über Israel hoffnungslos überfordert sieht, wünscht er sich eben nicht unerschöpfliche Goldreserven oder gar den Tod seiner Feinde, was für einen Herrscher wie ihn doch durchaus die Startposition verbessern würde. Nein, er wünscht sich eine ganz besondere Superkraft, nämlich ein gehorsames, ein hörendes Herz, die Gabe, gut von böse unterscheiden zu können, er will ein weiser und gerechter Richter über das ihm anvertraute Volk sein. Seine Entscheidungen möchte der junge König mit Herz und Verstand treffen. In seinen sprichwörtlichen salomonischen Urteilen hat er das geschafft. Er erkennt, wer lügt und wer die Wahrheit sagt, etwa in der bekannten Geschichte von den beiden Frauen, die sich um ein Kind streiten: Die wahre Mutter ist die, der das Leben des Kindes wichtiger ist als sein Besitz, die es lieber einer anderen Frau überlässt als es tot sehen zu müssen.

Diese besondere Superkraft des hörenden Herzens hätte ich auch gerne. Sofort würde ich merken, wenn das, was jemand sagt, etwas ganz anderes ist als das, was er wirklich denkt. Von den kleinen und großen Lügen, von denen wir alle umgeben sind, einmal ganz abgesehen, würde ich gleich wissen, wo der Schuh drückt oder wo der Hase im Pfeffer liegt; ich könnte direkt zum Kern des Problems vorstoßen und es so leichter und schneller lösen. Reden um den heißen Brei herum könnten wir uns sparen, und Fehleinschätzungen wären ausgeschlossen.

„Du hörst mir gar nicht richtig zu“, so beginnt oder eskaliert oft ein Streit. Jeder von uns möchte wahrgenommen, verstanden und ernstgenommen werden mit seinen Problemen, Meinungen und Gefühlen. Wenn wir einander bloß besser zuhören würden, wie viele Missverständnisse ließen sich vermeiden? Und auch wenn Gott nicht uns alle wie Salomo so einfach mit der Superkraft des hörenden Herzens beschenkt, dann könnte es uns schon weiterhelfen, dass wir uns Zeit nehmen, uns für den andern öffnen und möglichst wenig aneinander vorbeireden.

Dekan Uwe Rasp, Neustadt an der Saale

Lied 649: Herr, gib du uns Augen