Den eigenen Geist überlisten

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„Meditation“ mit Senioren ist fast schon zu viel gesagt: Es ist ein Angebot zum Zur-Ruhe-kommen und Hinein-Spüren in den eigenen Körper. Foto: pa
„Meditation“ mit Senioren ist fast schon zu viel gesagt: Es ist ein Angebot zum Zur-Ruhe-kommen und Hinein-Spüren in den eigenen Körper. Foto: pa

Meditationen für und mit Senioren

Zu Beginn schließen wir unsere Augen. Bei den Damen und Herren, die an diesem Nachmittag im Seniorenkreis sitzen, liegen die Hände locker im Schoß. Die Füße stehen fest auf dem Boden und der Rücken schmiegt sich an die Rückenlehne des Stuhls und gibt Halt. Und dann atmen wir. 

Seit einigen Jahren leite ich Seniorenkreise in meinem Gemeindegebiet. Normalerweise beginnen diese mit einem „Hallo“ in die Runde. Dann gibt es auch schon Kaffee und Kuchen zu freundlichen Plaudereien bevor das Programm des Nachmittags startet. Doch seit einiger Zeit ist das anderes. 

Begonnen hatte es mit einer Idee von einem Freund, Markus Oppel und mir. Beide arbeiteten wir vor langer Zeit in der Pflege im Krankenhaus. Jetzt haben wir andere Berufe – doch die Hege und auch Pflege von Menschen ist uns immer noch vertraut. Er als Pflegeberater, Pflegesachverständiger und Aromatherapeut – ich als Seniorenreferentin meiner Kirchengemeinde. Privat begleitet uns das Thema „Achtsamkeit und Selbstfürsorge“ seit langem und ist fester Bestandteil unseres Alltags.

Als vor über einem Jahr der Krieg in der Ukraine begann, erkannte ich rasch, wie sehr die Senioren, die ich betreute, sich in ihren Erinnerungen wiederfanden. Viele von ihnen hatten die Schrecken des 2. Weltkriegs und der Nachkriegszeit lange gut in ihrem Herzensräumen verschlossen. Doch durch die Bilder im Fernsehen und Radiobeiträge wurde längst
vergessene Geschichten; Gedanken, Gerüche oder Geräusche wieder hochgeholt. Viel Ablenkung haben die meist Hochbetagten nicht mehr. So bleibt viel Zeit, sich diesen Erinnerungen zu verlieren. Meistens sitzen sie in ihren Gedankenspiralen.Mir erzählten sie in dieser Zeit von diesen beängstigenden Erinnerungen deutlich mehr, als vor Beginn des Krieges in der Ukraine.

In Gesprächen mit Markus Oppel, der eine ähnliche Erfahrung mit seinen Klienten machte, entwickelte sich die Idee: Wenn uns Achtsamkeit, Meditationen gut tut – könnte es dann nicht auch dieser Generation helfen? Und wenn ja – welche könnte das sein? 

Im mittelalterlichen Christentum wurden die „geistlichen Übungen“ lectio (aufmerksame Lesung), meditatio (gegenstandfreie Anschauung), oratio (Gebet) und contemplatio (gegenständliche Betrachtung, Kontemplation) zur Sammlung des Geistes überliefert, wie man bei Wikipedia nachlesen kann. Damit sollte der Verstand und das Denken zur Ruhe kommen, um den „einen Urgrund“ freizulegen. Ähnliches wird in den Seniorenkreisen praktiziert, ohne dass es den speziellen Namen „Meditation“ trägt: Dort beten wir gemeinsam oder singen bekannte Lieder. All dass wollten Oppel und ich weiter vertiefen. Wir entschieden uns für eine Atemübung, eine kleine Phantasiereise sowie eines Hinein-Spüren in den eigenen Körper.

Beiden hatten wir unsere Zweifel, ob wir die Senioren von diesem „neumodischen Zeug“ überzeugen  könnten. Gleichzeitig war uns bewusst, dass durchaus eine Notwendigkeit besteht, Gedankenkarussells mit Sorgen und Ängste zum Stillstand zu bringen. Doch zwischen Gedanken und Handeln besteht ein Unterschiede. Und nicht jeder würde wahrscheinlich ein Angebot der Selbstfürsorger wahrnehmen können oder wollen. Das war uns beiden bewusst. Und so begannen wir einen Seniorennachmittag mit Kaffee und Kuchen und übten uns anschließend in der Achtsamkeit einer durch uns geführten Mediation. „Das war schön und überraschend“, freute sich Markus Oppel. „Es war absolut eindrucksvoll mitzuerleben, wie sowohl die Senioren also auch ich davon profitieren konnten.“

Bei einem der Seniorenkreise verfügten wir über ein Mikrofon, so dass auch Menschen mit Schwerhörigkeit gut den Worten folgen konnten. Doch natürlich hatten wir auch einige Hürden zu überwinden. Manche hatten von vornherein keine Lust auf diese Art von „Experimenten“. Bei der Ankündigung zur Phantasiereise erinnerte sich eine Seniorin, dass sie das schon mal gemacht hatte und scheußlich fand, eine andere meinte vorab „Hoffentlich geht’s nicht in den Wald“. Der nächste rumpelte gegen die Kaffeetasse, sodass erst einmal die Kaffeepfütze weggewischt werden mussten. Ein Herr gähnte und verschlief friedlich atmend die Veranstaltung. So gesehen hat auch er das Tagesziel: Entspannung und Loslösung von unguten Gedanken erreicht. 

Mittlerweile haben wir mehrere Gruppen angeleitet. Jedes Mal lernen wir dabei mehr, wie wir das Programm noch besser oder Erklärungen noch einfacher gestalten können. Es ist jedes mal aufs Neue eine Freude mitzuerleben, dass die meisten Anwesenden im Abschlussgespräch davon berichten, dass es ihnen jetzt deutlich besser gehen würde und sie entspannter seien. Ebenso würden sich viele vorstellen können, so etwas in ihren Tagesplan aufzunehmen. Einige erinnerten sich an zurückliegende Reha-Aufenthalte, in denen ähnliche Inhalte wie das meditieren vermittelt wurden. Und es fiel ihnen wieder ein, wie gut ihnen das schon immer tat – sie hatten es nur schlicht vergessen.

Markus Oppel ist überzeugt: „Ein großer Teil – natürlich nicht alle – kann davon profitieren. Die Senioren stärken sich auf diese Weise in ihrer Selbstwirksamkeit und können sich so aus ihren Gedankenkarussells  selbst herausholen und durchbrechen.“ Was ich aber seitdem oft mache, ist zu Beginn eines jeden Seniorenkreises eine kleine Anfangstrance. Ähnlich wie bei einem Gottesdienst geht es auch hier um eine Ausrichtung auf die nächste Zeit. Bewusst zu sitzen, einmal kurz durchzuatmen und anzukommen ist auch für mich ein gutes und wichtiges „Ritual“ geworden. 

Mit der Zeit sind wir beide in der Leitung mutiger geworden. Einmal haben wir eine aktive Mediation durchgeführt. Die Teilnehmenden durften zu lauter Musik ihre Arme schütteln – anschließend saßen wir in Stille. Es ist etwas ganz besonderes, wenn man mit vielen Menschen in Stille sitzt. Es schien, als würden wir gemeinsam einen heiligen Raum betreten. Alle spürten wir eine Verbindung zueinander. 

In meinen Seniorenkreisen ist es für mich ein gutes und wichtiges „Ritual“ geworden. Eine kurze Sequenz von ein oder zwei Minuten Stille, in der wir einmal bewusst durchatmen und uns „ausrichten“ auf unserer gemeinsame Zeit. Es wird von allen gut aufgenommen. 

Die Autorin ist Mitglied der Redaktionskonferenz und Seniorenreferentin von St. Johannis in Würzburg. Sie und Markus Oppel kommen auch zu ihrem Seniorenkreis. Schreiben Sie eine E-Mail an i.wollschlaeger@rotabene.de oder Telefon 0931/ 3224848.