Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über Jakobs Ringen mit dem Engel
Und Jakob blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
1. Mose 32, 25–27
Es gibt Nächte, die wollen einfach kein Ende nehmen. Was sich bei Tag so gut organisieren und erledigen lässt, was vom Licht erhellt so glänzend dasteht – in der Nacht zeigt es seine anderen, seine Schattenseiten. Und die haben es in sich.
Das erlebt auch Jakob. Im Organisieren, Taktieren und Tricksen ist er Meister. Was er in seine Hände nimmt, gelingt. Wenn auch manchmal mit unsauberen Methoden. Aber wen kümmert das schon, Hauptsache das Ergebnis stimmt. Bisher ist Jakob damit gut durchgekommen. Doch jetzt zieht es ihn zurück, zurück in seine Heimat, zu seiner Familie, seinem Bruder, dem er so übel mitgespielt hat. Jakob hat keine Ahnung, was ihn da erwartet.
So steht er nun, mitten in der Nacht, am Ufer des Jabbok. Alleine. Da fallen sie über ihn her: Die Erinnerungen an seinen Verrat an seinem Bruder, seinem alten Vater, und auch an seinem Schwiegervater. Die Schuld, die er auf sich geladen hat. Dazu die Scham gegenüber Lea, seiner ungeliebten Frau. Die Angst um Rahel, seine Liebste, und die Kinder. Wie übermächtige Schatten werfen sie sich auf ihn, drücken ihn nieder.
Viele kennen solche Nächte, in denen all das Macht gewinnt, was sich am Tag unauffällig unter den Teppich kehren lässt. Nächte, in denen Angst, Scham und Schuld wie Dämonen über sie herfallen und zu ersticken drohen. Doch wenn der Morgen kommt, verschwinden die Schatten meist schnell in ihre finsteren Winkel und der Alltag fordert sein Recht.
Anders Jakob. Sein Kampf am Jabbok ist erbittert und stumm. Keiner kann die Oberhand gewinnen. Der schattengleiche Gegner schlägt Jakob so hart auf die Hüfte, dass der Schmerz ihn fast lähmt. Doch Jakob gibt nicht auf. Er hält den anderen fest umschlungen, lässt ihn nicht gehen. Er will wissen, mit wem er da kämpft. Und endlich beginnt der andere zu sprechen. Damit hat Jakob schon fast gewonnen. Wo aus stummem Kampf ein Gespräch wird, kann Neues beginnen. Da beginnt Erkennen und Verstehen. Ein Silberstreif am Horizont.
Und Jakob erkennt: Es ist Gott selbst, mit dem er da kämpft. Gott, der Licht ist und Dunkel. Mit verzweifeltem Mut fordert Jakob ihn heraus: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ „Wie heißt du?“, fragt ihn Gott. Er antwortet: „Jakob“. Jakob, der Hinterlistige, der Betrüger, der Trickser und Blender. Mit seinem Namen zeigt er sich so, wie er ist. Auch mit den Seiten, die er an sich fürchtet und versteckt. Sein Name ist wie eine Beichte, ein Bekenntnis: Das bin ich. Sieh mich an. Und Gott sieht ihn an, von Angesicht zu Angesicht. Und schenkt ihm einen neuen Namen: Israel, Gotteskämpfer. Ein Ehrenname.
In dem Moment, in dem Jakob sich so zeigen kann, wie er ist; in dem Moment, in dem er sich Gott ganz anvertraut, wird es hell. Der Schatten verliert seine Macht. Neues kann beginnen.
Pfarrerin Beate Kimmel-Uhlendorf, Nürnberg