Letzte Versuchung Bonhoeffers?

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Buchcover und Porträt von Ralf Frisch.Fotos: PR und Minkus
Buchcover und Porträt von Ralf Frisch.Fotos: PR und Minkus

Lebenslinien in Gottes Hand: Verzweifelte der „protestantische Heilige“ an Gottes Hilfe?

Ist nicht schon längst alles gesagt, über Dietrich Bonhoeffer, den „protestantischen Heiligen“? Ralf Frisch, Professor an der Evangelischen Hochschule Nürnberg sowie lange theologischer Referent bei der Bayerischen Landessynode, geht in seinem aktuellen Buch „Widerstand und Versuchung“ neue Wege: Er untersucht noch einmal die Denk-
richtungen des Berliner Theologen, der am 4. Februar 1906 das Licht der Welt erblickte. 

Frisch liest dessen „Widerstand und Ergebung“ aus der Haft nicht als wegweisenden Aufbruch zu neuen theologischen Ufern, sondern als Ausdruck einer Versuchung: Dabei gerate die Theologie Bonhoeffers im Gefängnis „aus den Fugen“.

Das Programm eines religionslosen Christentums, die Idee einer Kirche für andere, die Vision eines mündigen Lebens ohne Gott: Reagiert Bonhoeffer damit nur auf die Herausforderungen seiner Zeit oder legt er damit Hand an die Substanz des christlichen Glaubens? Ralf Frisch nähert sich dieser Frage im Wechsel von theologischer Interpretation und poetischer Imagination. 

In einem ergänzenden Videogespräch mit dem Evangelischen Sonntagsblatt merkt Frisch an, dass die Bonhoeffer-Rezeption sehr einseitig auf dessen „ethischer Spur“ erfolgt sei. Reiche das als Basis für die Zukunft der Kirche? Sie hätte sich zudem zu sehr auf den ethischen Anspruch Bonhoeffers bezogen, für die Welt da sein zu wollen.

Die Grundlagen dazu befinden sich in den „Hammerbriefen“ Bonhoeffers, wie Ralf Frisch sie im Gespräch mit dem Sonntagsblatt nennt. Sie stammen im Wesentlichen aus dem Frühjahr und Sommer 1944. Bonhoeffer erklärt da zusammengefasst: Gott ist kein „Erfüllungsautomat persönlicher Wünsche. Er ist nicht der Generallöser der persönlichen Probleme der Menschen. Er eignet sich nicht zur Befriedigung existentieller und spiritueller Identitätsbedürfnisse von Individuen.“ Es gehe Gott viel mehr darum, sein Reich auf Erden zu verwirklichen: Daher ist der Glaube für der Wiederstandskämpfer diesseitig: Jesus begrüßt das irdische Heil und die eigene Kraft der Menschen zur Veränderung gegen etablierte Formen des Christentums.

Dann … lange Nichts. Es folgt ein auffälliges Schweigen Bonhoeffers nach dem Sommer 1944. Kamen seine Briefe nicht mehr durch oder musste er sein Denken, dass durch die Haftzeit völlig „aus der Fassung“ geraten war, neu sammeln?, fragt Frisch. Erst zum Jahreswechsel 1944/5 gibt es letzte Briefe des Widerstandskämpfers. Und das Gedicht „Von guten Mächten“. Rang er sich zu neuer Zuversicht durch, nachdem er zuvor bis an die Grenzen des Glaubens vorgestoßen war? 

Aber grundsätzlich strahlte Dietrich Bonhoeffer bekanntlich auch im Gefängnis eine besondere Gelassenheit aus. Rang er darum, sich nichts anmerken zu lassen von seiner Verzweiflung, sondern Haltung auch gegenüber der Familie und den Freunden zu bewahren? Doch Christus war für ihn immer „die allesbestimmende, ja die einzig wirkliche und so auch einzig wirksame Wirklichkeit“ gerade inmitten der Welt. Andererseits habe Gott keine anderen Hände als die unseren, um die Welt zu retten, meint er. 

Das bezieht Ralf Frisch etwa auf die aktuelle Klimakatastrophe. Dabei ist sie durch Menschen verursacht, nur wir können sie stoppen. Sicher werden manche Einzeller und Insekten damit klarkommen. Doch für die Menschheit hat sie apokalyptische Züge, wenn wir sie nicht in den Griff bekommen. Nicht mehr Gott kann oder will da eingreifen, sondern das gehört zum menschlichen Verantwortungsbereich quasi als Sachwalter der Natur. 

Bonhoeffers Forderung nach menschlicher Verantwortung im Namen Gottes sieht Ralf Frisch da in letzter Konsequenz durchbuchstabiert. Dann aber auch dessen Erschrecken davor. Der „cantus firmus“, der Grundakkord eines bedingungslosen und vertrauensvollen Glaubens bleibe bei ihm bestehen. Dieser Widerspruch werde bei Bonhoeffer in den überlieferten späten Briefen nicht aufgelöst. Ist es eine späte Rückkehr zum Glauben? Eine Abwehr der Versuchung, deren genauer Weg im Dunkeln bleibt? 

Diese Lücke will Frisch imaginativ schließen. Er nähert sich diesem Ringen Bonhoeffers nun poetisch: Dabei schildert er kraftvoll dunkle Albträume des Wiedrstandskämpfers, sein Ringen mit einem Versucher. Schließlich die Erkenntnis: Das sei die Gedankenwelt Friedrich Nietzsches, ohne dass Bonhoeffer ihn ausdrücklich erwähnt.

Doch dessen Vergottung des Menschen, die Verkündigung des Todes Gottes und die „Lüge vom Jenseits“ will Frisch in den „Hammerbriefen“ erkannt haben. Nietzsche führt all das in den Wahnsinn, Bonhoeffer vielleicht doch zurück zum Glauben. Andererseits teilt er nicht Nietzsches Schwindel vor dem „Abgrund, in den Menschen zu stürzen drohen, wenn sie Gott hinter sich lassen“. 

In Gesprächen mit seinen Studierenden über das Buch, so berichtet Frisch im Gespräch, gäbe es an dieser Stelle immer intensive Diskussionen über die Grundlagen des Glaubens und die Macht Gottes: Was ist mit der Rechtfertigungslehre? Glauben wir an die Auferstehung? Können wir das Schweigen Gottes während und nach der Kreuzigung Jesu bis zum dritten Tag aushalten?

Gott darf jedenfalls nicht als „Lückenbüßer unserer unvollkommenen menschlichen Erkenntnis“ dienen, wie es Bonhoeffer am 29.5.1944 formuliert: weder an den Grenzen menschlicher naturwissenschaftlicher Erkenntnisse noch in angeblichen Gottesbeweisen, noch an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern in der „Mitte des Lebens“. Da müssen wir Zweifel und Gottesferne aushalten und trotzdem die Hoffnung, den Glauben an Gottes Beistand nicht verlieren.

Und der Glauben?

Das buchstabiert Bonhoeffer meiner Ansicht nach in seinem „Glaubensbekenntnis“ in seiner „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“ – noch vor seiner Haft – existentiell durch: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Und: „Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Faktum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ 

Dennoch drohte Bonhoeffer seines Gottesgewissheit während der Haft immer wieder zu entgleiten. Auf diese Weise musste diese Erkenntnis erst mühsam zur neuen Lebenspraxis für ihn werden. Mit was oder wem er dabei rang, das wissen wir nicht. Gar wie Jakob? Aber Bonhoeffers letzte Äußerungen zeigen deutlich, dass er wohl eine Antwort erhalten hat. Auch so bietet er Wegweisung.

Ralf Frisch: Widerstand und Versuchung. Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor, TVZ-Verlag, 2. Aufl., Zürich 2022, 176 Seiten, ISBN 978-3-290-18478-0, 25 Euro.