Innere Gemeinschaft wirkte nach außen

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Lacktablett „An der Straße nach Zittau“, um 1830. Foto: © Heimatmuseum der Stadt Herrnhut
Lacktablett „An der Straße nach Zittau“, um 1830. Foto: © Heimatmuseum der Stadt Herrnhut

Herrnhuter Brüdergemeine feiert 300. Geburtstag: Ein Gang durch geistreiches Wirken

Sie tat den ersten Schlag – so berichtet es Konrad Fischer. Vor 300 Jahren, am 17. Juni 1722, fällte der mährische Missionar und Zimmermann Christian David am Hutberg auf dem Gut des Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) einen Baum. Herrnhut war gegründet. Als Leiter des dortigen Heimatmuseums ist Konrad Fischer auch einer der Kuratoren, die an der Sonderausstellung zum 300-jährigen Jubiläum beteiligt sind. Mit dem Holz bauten die Pioniere das erste Haus der neuen Siedlung unter dem sprechenden Namen Herrnhut, erklärt Vogt im Telefonat mit dem Sonntagsblatt. Es entstand ein Zufluchtsort für protestantische Glaubensflüchtlinge in Ost-Sachsen. 

Immer mehr Menschen kamen dort zusammen. Gleich in den ersten Jahren waren es rund 300, meist Handwerker. Viele stammten aus der hussitischen Bewegung und der aus ihr hervorgegangenen Mährischen Brüder-Unität. Nach dem Dreißigjährigen Krieg konnten sie oft nur noch im Verborgenen ihren Glauben leben. Sie gingen den Weg der Exulanten. 

Daneben kamen aber auch Pietisten aus anderen Gebieten. „Das Experiment sprach sich herum“, so Fischer. Schließlich war der Hallenser Pietismus August Hermann Franckes schon einige Jahrzehnte alt – nicht immer zur Freude der evangelischen Landeskirchen. 

Dabei war Zinzendorf konfessionelle Enge fremd. In Herrnhut sollten Lutheraner, Reformierte und „mährische“ Christen nebeneinanderleben. Die Konfessionen sah er als unterschiedliche Wege zu Gott an. Dieses Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubensvorstellungen war nicht immer einfach. Wie ließ sich am besten eine christliche Gemeinschaft aufbauen und das ganze Leben als Gottesdienst gestalten?

Zinzendorf musste eingreifen. Er kam eigens wenige Wochen nach der Gründung aus Dresden herbei und erließ Statuten: Sie regelten das kommunale Zusammenleben, dienten aber auch als Grundlagen für das christliche Gemeinschaftsleben. „Wir lernten lieben“: Unter diesem Grundsatz sollte das neue Zusammenleben stehen, so Peter Vogt, Pfarrer und Studienleiter der Brüdergemeine. Auch mit ihm unterhielt sich das Sonntagsblatt telefonisch. 

Ein Abendmahl am 13. August 1727 vor Ort schuf die Grundlage zur Überwindung der Gegensätze. Liebesmahlfeiern waren fortan Zeichen der neuen Verbundenheit. „Die Kirche ist mehr als eine geistige Institution, sondern beinhaltet Dynamik“ – im Wirken des Heiligen Geistes, fasst Vogt zusammen.

Enge und Weite

Dem Wirken des Geistes Raum zu geben, das war Zinzendorf immer wichtig. Doch sieht Peter Vogt ihn keineswegs in der Vorgeschichte der Pfingstbewegung. Nein, er stellte besonders Jesus Christus ins Zentrum der Verehrung – auch zu dieser Zeit, als „es außer Mode geriet“ und viele aufgeklärte Zeitgenossen Jesus eher als besonders „guten Menschen“ verehrten, wie Vogt es ausdrückt. Rechtfertigung geschieht für Zinzendorf gut lutherisch durch den Kreuzestod und die Auferstehung. 

Das Gedenken an die Gründung Herrnhuts findet im Völkerkundemuseum vor Ort statt, da es dort bessere Ausstellungsmöglichkeiten gäbe, so Fischer im Telefonat mit dem Sonntagsblatt. Auch die Axt ist dorthin gezogen. Sie war nicht nur an der Gründung des Ortes beteiligt, sondern auch bereits wenige Jahre später auf den ersten Missionsreisen mit dabei.

Der 13. August gilt nun als geistliche Geburtsstunde – während der 17. Juni jährlich als Gründungstag mit der „Denksteinfeier“ begangen wird. Beide Daten sollten später in der DDR-Geschichte eine wichtige Rolle spielen – „die Herrnhuter aber hatten sie zuerst“, so Fischer.

Die Gemeinde war in Gruppen nach Alter, Geschlecht und Familienstand eingeteilt: Von Kindesbeinen an waren die Mitglieder da in sogenannten „Chören“ zusammengefasst: Junge Menschen, ledige Schwestern und Brüder, Witwen und Witwer beteten, lebten und arbeiteten in den Chorhäusern zusammen. Innerhalb dieser Gruppen übernahmen Frauen wichtige Leitungsaufgaben. „Älteste“ und „Helfer“ hatten abgestufte Verantwortung. Ansonsten wirkten alle zum Wohl der Gemeinschaft, versorgten Pflegebedürftige und bereiteten sich auf den Dienst in Gemeinde und Mission vor. Nur Eheleute hatten stärkere Bande unter sich.

Wirkt dies eng, so glich dies ein Blick in die Weite aus: Bereits zehn Jahre nach der Gründung begannen Herrnhuter ihre Missionsarbeit. Dabei blickten sie zunächst besonders nach Amerika. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf lernte bei einer Krönungsfeier am dänischen Königshof den getauften ehemaligen afrikanischen Sklaven Anton Ulrich kennen. 

Das Elend der Sklaven, aber auch ihr geistiger Notstand als Ungetaufte lösten in Herrnhut einen großen Missionsdrang aus, erklärt Peter Vogt. 1732 starteten die ersten Missionare zur dänischen Insel St. Thomas in der Karibik. Es folgten Grönland, Südafrika und Surinam. 

Johann Leonhard Dober (1706–1766) aus Mönchsroth an der schwäbisch-fränkischen Grenze brach zusammen mit dem Zimmermann David Nitschmann als erster Missionar in die Karibik auf. Er kehrte 1734 in Begleitung des siebenjährigen ehemaligen Sklaven Oly Carmel nach Herrnhut zurück. Dieser ließ sich 1735 auf den Namen Josua taufen, starb aber bereits ein halbes Jahr später. Bis 1760 kamen 31 Nichteuropäer nach Herrnhut.

Die Missionsstationen sollten sich selbst finanzieren: Daher waren viele Missionare gut ausgebildete Handwerker. Die Axt kam mit nach Grönland und verblieb dort bis ins 19. Jahrhundert, so Konrad Fischer.

Zinzendorfs Wirken

Auch Zinzendorf musste seine Gründung verlassen. Die Brüdergemeinde hatte sich zu sehr aus der lutherischen Landeskirche herausentwickelt. Die Gemeinschaft konnte bleiben, doch ihr Gründer musste 1736 Kursachsen verlassen.

Und dies, obwohl der Reichsgraf bereits 1734 inkognito ein „Rechtgläubigkeitsexamen“ abgelegt hatte, mit dem er sich zum Predigtdienst ordinieren ließ. Ein reguläres Theologiestudium hatte er nie absolviert. Nach dem Willen seiner Verwandten sollte er schließlich Jura studieren, da eine Tätigkeit als Pfarrer in seinen Kreisen nicht als standesgemäß galt. Immer wieder besuchte er aber während seines Studiums Theologievorlesungen, anstatt Jura zu pauken. Zinzendorf übernahm 1737 aus der Ferne das Bischofsamt der Brüder-Unität. 

„Er war eine charismatische Persönlichkeit“, bringt es Peter Vogt auf den Punkt. Wohl auch sehr dominant. „Entweder man war für ihn oder gegen ihn.“ Vogt erinnert daran, wie Zinzendorf in England mit John Wesley zusammentraf, der die Methodisten-Bewegung gründete. Schnell war klar: Sie passten nicht zusammen – weder theologisch noch persönlich.

Mit seiner Frau Erdmuthe Dorothea führte Zinzendorf ausdrücklich eine „Streiterehe“. Das muss nicht unbedingt heißen, dass sich beide fortwährend in den Haaren lagen, lächelt Vogt. Eher wollten sie gemeinsam für Christus streiten. Doch zunehmend kriselte es. 

Seine Frau folgte Zinzendorf nicht in die Verbannung, sondern blieb in Herrnhut. Ihre organisatorischen und administrativen Fähigkeiten konnten so der Gemeinschaft zugutekommen. Doch auch nach der Rückkehr ihres Mannes lebten sie nicht mehr zusammen. 

Pietisten Hallenser Prägung kritisierten ihn wiederum als „Unbekehrten“, schließlich hatte er keinen Bußkampf durchfochten. Doch konnten Gläubige nach seiner festen Überzeugung im Blick auf den Gekreuzigten immer wieder neu eine „Minutenbekehrung“ erfahren. 

In den 1740er-Jahren verstand Zinzendorf allerdings den „Heiligen Geist unter dem Bild der Mutter“, wie Peter Vogt meint – sozusagen die Trinität als Heilige Familie. Davon rückte der Graf später ab.

1750 wurde die Verbannung Zinzendorfs aus Herrnhut aufgehoben, er lebte aber gerade in London und blieb dort bis 1755. Nach dem Tod seiner Frau Erdmuthe 1756 heiratete er noch einmal die 15 Jahre jüngere Anna Nitschmann, Tochter eines langjährigen Weggefährten.

Nach Zinzendorfs Tod 1760 entwickelte sich die Gemeinschaft aus der lutherischen Landeskirche heraus. Sie stehe zwischen dieser und den Freikirchen, meint Peter Vogt. So gehört ein Vertreter der Gemeinschaft der EKD-Synode an, jedoch ohne Stimmrecht. Gleichzeitig ist die Gemeinschaft Gastmitglied beim Bund der Freikirchen. Es ist möglich, der Brüdergemeine an-
zugehören, ohne sich von der Landeskirche trennen zu müssen,
so Vogt.

Schon längst gibt es Herrnhuter an vielen verschiedenen Orten. Der Gründungsort selbst verstand sich lange als geschlossene Gemeinschaft. Schon 1731 entstand ein eigener Friedhof, der „Gottesacker“, auf dem in schmucklosen einheitlichen Gräbern die Mitglieder der Gemeinschaft ihre letzte Ruhe finden – und zwar in chronologischer Reihenfolge und nach Schwestern und Brüdern getrennt begraben. Als Zeichen der Gleichheit vor Gott gibt es einheitliche, flache Grabsteine. 

=> Der weitere Weg der Gemeinschaft