Lernen über die Zeit

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Ein Altenheimseelsorger bei der Arbeit.Foto: Altenheimseelsorge
Ein Altenheimseelsorger bei der Arbeit.Foto: Altenheimseelsorge

 

 

Seelsorge im Alten- und Pflegeheim erfordert eine besondere Zugewandtheit

In der Serie „Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung“ stellen wir je einen Bereich der Seelsorge der Evangelischen Kirche in Bayern vor.

=> Zum letzten Teil

Als Pfarrer Volker Herbert heute ins Foyer des Alten- und Pflegeheimes kommt, sitzt dort wie immer Frau Z., die tatsächlich über hundert Jahre alt ist. Sie liest „ihre“ Tageszeitung. Ihre eigene, wie sie betont. Das Eigene zu erhalten, solange und soweit es geht, es manchmal buchstäblich mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, gehört zum Altenheim: „Ein Kampf, der alle Beteiligten viel Kraft kostet, doch die Pflege hat dazugelernt, trotz zwingend durchgetaktetem Tagesablauf, notwendiger Routine und erdrückendem Zwang zur Dokumentation gibt sie inzwischen den Bedürfnissen und Stimmungen der Bewohner mehr Aufmerksamkeit und Spielraum als früher“, so der erfahrene Seelsorger. 

In vielen Kirchengemeinden in Bayern gibt es ein oder mehrere Pflegeheime oder Seniorenresidenzen. In den meisten sind ehren- oder hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger unterwegs. Einer von ihnen ist Volker Herbert, Pfarrer im Ruhestand. Er verbringt jede Woche einige Stunden in diesem Münchner Pflegeheim. Er nimmt uns  in Gedanken mit zu seinem jüngsten Seelsorge-Besuch. 

Frau Z. blickt von der Zeitung von vorgestern auf und fragt Pfarrer Herbert: „Ist heute Gottesdienst?“ Er lächelt zurück. „Nein.“ Und er bekennt: „Es berührt mich, dass sie den Gottesdienst vermisst.“ Sie seufzt und schaut zur Decke. „Der da oben mag mich ned! Wann holt er mich endlich?“

Frau Z. hört schlecht. Ihre Hörgeräte sind in ihrer Handtasche beim Goldschmuck. „Kaputt“, sagt sie. Die Batterien sind leer. „Inzwischen habe ich Reservebatterien dabei und mit ihrer Tochter darüber gesprochen“, so Herbert. „Geht doch!“ So gibt es manchmal ein kleines Erfolgserlebnis. „Das braucht es dringend als Gegenkraft zu den Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, dem nichts ändern können.“

Ständig ändert sich etwas

Als nächstes begegnet der ehrenamtliche Seelsorger Frau M., Pflegerin im 2. Stock: „Wenn ich nach der Schicht gehe, möchte ich das Gefühl haben, alle Bewohner haben, was sie brauchen. Sonst nehme ich die Probleme und die Unzufriedenheit mit nach Hause“, berichtet sie ihm. „Leider ist es manchmal so, weil wir zu wenig Personal sind. Deshalb stehen Zimmer leer trotz Warteliste. Die Menschen, die zu uns kommen, sind eben nicht nur alt oder vergesslich, sondern haben schwere und pflegeintensive Krankheiten, können sonst nirgendwo hin“, erläutert die Pflegekraft. „Wir müssen alles genau planen, aber ständig ändert sich etwas und wir kommen dann nicht nach. Das macht manche Bewohner noch verwirrter. Mit tut das richtig weh.“

Heutzutage ist das Alten- und Pflegeheim auch Palliativstation und Hospiz. Der Übergang dorthin wird meist als Verlust an Lebensqualität und Freiheit empfunden. Gut, wenn Angehörige da sind, die diesen Schritt mit Verständnis und viel Geduld begleiten.

Man muss warten können

Pfarrer Herbert geht weiter zu Frau O., die einst nach einem Schlaganfall eingeliefert wurde und nun Pflegegrad 5 ist. „Bei meinem ersten Besuch lag sie reglos und stumm da mit geschlossenen Augen“, erinnert er sich. „Ich setze mich an ihr Bett, spreche und schaue sie an, atme bewusst im selben Rhythmus, konzentriere mich ganz auf sie. Keine Reaktion. Nach einer Viertelstunde gehe ich, weil scheinbar nichts geht“, beschreibt der ehrenamtliche Seelsorger diesen scheinbar „erfolglosen“ Besuch. „Bei anderen gibt es mehr Resonanz und auch meine Zeit ist begrenzt.“

„Von Frau O. habe ich über die Zeit gelernt“, beschreibt er einen Prozess, den er durchlief. „Bei den folgenden Besuchen merke ich, dass sich schon dadurch etwas ändert, dass ich bei ihr im Zimmer bin. Ich muss nur warten. Es ist keine verlorene Zeit, im Gegenteil! Irgendwann öffnet sie ein Auge oder beide, dreht den Kopf auf mich zu oder von mir weg, schnauft hörbar, alles Botschaften. Und ich sage ihr, was ich verstehe. Bei meinem letzten Besuch hat sie plötzlich geweint, richtig geweint, und mich dabei angeschaut. Nach fünf Jahren. Zeit ist eigentlich etwas anderes, als was wir von ihr halten“, ist seine Erkenntnis.

„Heute sind ihre Haare noch feucht, Badetag“, beschreibt er weiter den aktuellen Besuch in der Gegenwart. „Das ist für alle anstrengend. Ich bleibe bei ihr und es tut mir gut. Ihre Familie hat schöne Bilder aufgehängt, ich fühle mich im Raum beschützt. Und es ist still.“ Ein seltenes Glück im Altenheim.

In anderen Räumen geht es nur noch ums Aushalten. Meist wortlos. Aber Hauptsache, nicht ganz allein.„Noch einen Moment innehalten in der Kapelle“, berichtet Pfarrer Herbert von einer Art Abschiedsritual seiner Besuche. Die Kapelle ist ein zweckmäßiger Raum im Tiefgeschoss, aber dort wartete schon manchmal jemand Unbekanntes. „So wie damals jene 94-jährige Frau, die sich in einen jungen Pfleger verliebt hatte und innerlich zwischen Glück, Zweifel und Angst hin- und hergerissen war“, berichtet der Altenheimseelsorger. „Ich durfte der Anwalt ihres Glücks sein. Wie voraussehbar wurde es zunehmend dramatisch und endete tragisch, aber sie wollte es und es war noch einmal richtig Leben.“

Danach begibt er sich zum Ausgang. Im Foyer sitzt immer noch Frau Z. „Meinen Abschiedsgruß hört sie nicht. Draußen bleibe ich erst einmal stehen und schaue zum Himmel.“

Kontakt: Servicestelle Altenheimseelsorge in der Landeskirche, Amt für Gemeindedienst, Tel. (09 11) 43 16263. E-Mail: altenheimseelsorge@afg-elkb.de, https://www.altenheimseelsorgebayern.de

Weiterführende Informationen: 

https://handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/handlungsfeld4.php