Da standen sie – und konnten nicht anders

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Martin Luther und seine Bindung an die Schrift
Denkmal des Reformators Martin Luther mit der von ihm ins Deutsche übersetzten Bibel auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg. Foto: epd/F

Nicht nur Martin Luther, auch Kaiser Karl V. stand in Worms vor der Gewissensfrage

Im Twitter-Zeitalter müssen viele noch so komplexe Gedanken in 280 Zeichen passen. Denn so lang darf eine Textnachricht da maximal sein: Die Gefahr von Verkürzungen entsteht. Martin Luther benötigte nur ein knappes Viertel davon: „Ich kann nicht anderst / hie stehe ich / Got helff mir / Amen.“ So ist der Schluss seiner Rede am 18. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms überliefert. In ihr verweigerte er den Widerruf seiner Schriften. 

Nur: Gesagt hat er diesen Satz wohl nicht. Das meint der Lutherkenner und Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann. Er hat die Wormser Landesausstellung zu dem dortigen Reichstag vor 500 Jahren entscheidend mit begleitet. Der Katalog dazu erschien erst im Herbst. Die Darstellung der Gewissensfrage nimmt dort einen Schwerpunkt ein.

Nach Kaufmann erschien dieser Schlusssatz erst in einem frühen Wittenberger Druck der Rede, deren Manuskript der Reformator noch im April 1521 vorausschickte – und seinen Auftritt vor dem Reichstag reflektiere. Den Fürsten antworten musste er jedoch ohne Manuskript.

Ein handschriftliches Fragment von seinem Auftritt gab wohl als Zitat seine Bindung an „gottes wortt unnd den glauben“ und die Vermeidung einer „gewyßenß versehrung“ wieder. Das war jedoch nicht dasselbe, was wir heute unter „Gewissen“ verstehen – auch wenn unser heutiger Gewissensbegriff von ihm mit geprägt wurde. Diesen Bedeutungswandel untersuchen Markus Wriedt und Anja Lobenstein-Reichmann ebenfalls in dem Katalog. 

Gewissensfrage Luthers

Ganz vereinfacht lässt sich vielleicht zusammenfassen, dass das „Gewyßen“ bei Martin Luther einen direkten Draht zu Gott hat: Es ist trotz seiner großen Betonung der biblischen Leitschnur auch Mit-Wissen an seinen Maßstäben. Dagegen ist es in der Moderne eher eine normbildende Instanz im menschlichen Bewusstsein: Es bestimmt im Einklang mit den gesellschaftlichen und individuellen Werten mein verantwortliches Handeln. Gewissensbisse habe ich dann, wenn ich diesen inneren Normen nicht genügt habe oder ein Wertekonflikt herrscht, so dass ich mich in meinem Handeln für einen entscheiden muss. 

War es „gemartert und gepeynigt“, so hatte Luther nicht nur Gewissensbisse, sondern es bedeutete für ihn eine irdische Gottesstrafe als Vorbote des Endgerichts, wenn es sich der göttlichen Gnade als nicht würdig erweist. So erklärt Anja Lobenstein-Reichmann. Doch Luther war am Abend des 18. April 1521 mit sich im Reinen: Er hatte der dämonischen Versuchung widerstanden: zu widerrufen, um sich zu retten. 

Karls Konflikt

Luthers Gegenüber, Karl V., schlief in dieser folgenden Nacht wenig: Da „sieht sich der 21-jährige Kaiser genötigt, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, warum er dem Reformator widersprechen muss.“ So Volker Gerhardt, der sich in dem Katalog nun eigens Karl zuwendet. 

Am Morgen hatte der Herrscher eine dreiseitige Handschrift in seiner Muttersprache Französisch verfasst, die nun übersetzt und verlesen wurde. Auch diese ist auf Wirkung bedacht – doch spiegelt sie auch die Gedankenwelt des Herrschers, von dem zumeist in Bezug auf Worms nur der Bannspruch gegen Luther in Erinnerung bleibt. Gerhardt: „Beide sehen sich Personen vor dem Richterstuhl Gottes und beide wollen mit sich selbst einig sein.“ Es zeige sich ein Echo Karls auf Erasmus von Rotterdam, der ihn mit erzogen hatte: Dieser betonte die menschliche Freiheit, durch die jeder für sein Handeln verantwortlich ist. 

Karl sieht sich nicht wie Luther „allein in der gläubigen Nachfolge Jesu Christi“, sondern auch als Erbe einer großen Tradition und in der Verantwortung für viele Menschen: Gott hat sich für ihn in der Schöpfung und der Geschichte offenbart: Und diese Entwicklung der Welt wurde nachdrücklich durch seine Vorgänger geprägt, die nach Karls Worten „immer Verteidiger des katholischen Glaubens … und der heiligen Bräuche zur Ehre Gottes“ gewesen seien. Dagegen muss sich ein einzelner irren, sonst „wäre die ganze genannte Christenheit immer im Irrtum gewesen und würde es heute noch sein“, so Karl nach Gerhardt. 

Nun kommt Karl auf das Konstanzer Konzil zu sprechen: Da entschied sein Vorgänger Sigismund 1415, die Zusicherung des freien Geleits gegenüber Jan Hus zu brechen und ihm der Inquisition auszuliefern. Und diese Konsequenz zieht Karl gerade nicht. Er denkt offenbar gar nicht daran, dessen Wortbruch nachzueifern. Im Gegenteil: Luther sollte so schnell wie möglich gen Wittenberg verschwinden: Damit das versprochene freie Geleit rasch endet – aber auch damit er ihn nicht zu hören braucht. Da scheint mir eine deutliche Irritation spürbar.  

Karl formuliert seine Sorge, von Zeitgenossen und seinen Nachfolgern für schwach gehalten zu werden, weil er gegenüber Luther so lange gezögert habe. Er appelliert an die geschlossene christliche Front der fürstlichen Reichstagsteilnehmer, obwohl er dort von Sympathisanten Luthers weiß. Das kann Taktik gewesen sein, aber auch Sorge vor dem Verfall des Reiches, das fast ganz Mitteleuropa zwischen Frankreich und Polen, Dänemark und Sizilien sowie Spanien und das neuentdeckte Südamerika umfasste. Er will den Frieden sichern – obwohl er viele Kriege führte und dabei deutlich mehr Gewalt als angemessen zuließ. Er steht in riesigen Spannungen zwischen Traditionen, Interessenkonflikten und seinen Normen.

Eingeständnis der Schwäche

Derselbe Herrscher teilte das Reich, als er 1555 die beispiellose Entscheidung der freiwilligen Abdankung traf. Er erklärte unter anderem: Er wolle die Herrschaft, „um für das Wohl der Reiche zu sorgen, der gesamten Christenheit Frieden und Eintracht zu erhalten und zu schaffen. Große Hoffnung hatte ich – nur wenige haben sich erfüllt, und nur wenige bleiben mir: und um den Preis welcher Mühen! Ich weiß, dass ich viele Fehler begangen habe. Aber bewusst habe ich niemandem Unrecht getan. Sollte dennoch Unrecht entstanden sein, geschah es ohne mein Wissen und nur aus Unvermögen: ich bedaure es öffentlich.“

Hier spricht Karl über die Grenzen seines Willens und Handelns in einer beispiellosen Zeit der Umbrüche. Trotz seines universalen Religiosität und seiner unzweifelhaften Frömmigkeit stellt er sich hier nicht dem Urteil Gottes, sondern der Welt. Und Karl weiß längst um die Grenzen und Schwächen der besten Absichten. Verantwortliche freie Entscheidungen reichen nicht. Er hatte seinen Normen nicht genügt, die sich nicht verkürzen lassen.

Für Martin Luther hingegen steht menschliches Tun unter der Herrschaft des Glaubens, durch die es sich aus weltlichen Zwängen lösen kann – auch aus der Angst vor einem Ketzerprozess, wie ihn Jan Hus erlitt und der für ihn in Worms möglich gewesen wäre.

=> Mehr zu der Ausstellung, die bis Ende 2021 läuft: https://luthermoment.de/programm/landesausstellung.html

Ausstellungskatalog: Hier stehe ich … Hg: Thomas Kaufmann u. a., Worms 2021, 520 S., ISBN 978-3-947-884261, hier vor allem die Seiten 274–331.