Die Würde des Menschen – was heißt das?

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Chefredakteurin Susanne Borée, Hintergrundbild von Erich Kraus

Editorial im evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes von Chefredakteurin Susanne Borée

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So betont es gleich der erste Artikel des Grundgesetzes. Es wurde vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, verabschiedet. Können wir heute einem Gegenüber mit anderen Ansichten noch respektvoll begegnen? Oder lieber sie oder ihn abwerten – und gleich niederschlagen?

Wenig erscheint nun so antastbar wie gerade die Würde eines Menschen: An der Schwelle des Todes etwa: Wenn sie sich zunehmend im fremdbestimmten Griff lebenserhaltender Maschinen fühlen. Psychologisch ist kaum so etwas ungeklärt wie das Konzept der Würde. Kein Wunder, dass sich sowohl Befürwortende als auch Gegner des assistierten Suizids in der Begründung ihrer Haltungen letztlich auf die Würde des Todkranken berufen: Manchen ist es wichtig, ein Gefühl für Selbstwirksamkeit bis zum Ende behalten zu können. Anderen, keine Angst vor dem fremdbestimmten Sterben haben zu müssen.

Auch beim Disput um die Legalisierung der Abtreibung geht es im Kern darum, wann der Embryo zum Menschen wird. Und wie schwer seine Würde jeweils im Vergleich zu derjenigen der Mutter wiegt.

Das Grundgesetz entstand ausdrücklich „In Verantwortung vor Gott und den Menschen …“. Biblisch leitet sich die Würde eines jeden Menschen durch die Gottesebenbildlichkeit ab.  Denjenigen Menschen, die bei der konkreten Ausgestaltung anderer Ansicht sind, muss ich allerdings respektvoll begegnen und annehmen, dass sie genauso ernsthaft um Abwägung ringen wie ich. 

Da sind wir dann philosophisch schnell wieder bei Kant und seinem Kategorischen Imperativ – oder der biblischen Goldenen Regel: „Was du nicht willst, was man dir tu, …“. Welche Würde haben diejenigen, die andere abwerten?

Die Würde ist „kein Konjunktiv“ – so freche Zwischenrufe, die diese gleichlautende Form des Verbs „sein“ im Blick haben. Sie wendet sich gegen Sonderrechte würdevoller oder wertvoller Menschen. Arme Kinder haben dieselbe Würde wie reiche Erblasser. 

Die alte Dame „Würde“ scheint nun zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes bedrohter denn je. Respektvolle Dispute um ihre konkrete Abwägung zeigen aber, wie wenig sie zum alten Eisen gehört. Doch gilt genauso: Erst mit 75 Jahren hörte Abraham den Ruf Gottes (1. Mose 12, 4) und machte sich auf ins Gelobte Land! Keine Zeit für Stillstand!