Renovierte Religion – gelingt Erneuerung? Teil II

185
Dorfkirche St. Anna aus dem 18. Jahrhundert im gleichnamigen Örtchen „mitten im Nirgendwo“ zwischen Tallinn und Tartu. Foto: Borée
Dorfkirche St. Anna aus dem 18. Jahrhundert im gleichnamigen Örtchen „mitten im Nirgendwo“ zwischen Tallinn und Tartu. Foto: Borée

Hilfen für Bedürftige in Estland

Bieten sich da gerade auf dem Land nicht Sozialstationen, Pflegedienste oder irgendein diakonisches Engagement für sie an? Dagegen fragt Urmas Viilma: Wer soll es bezahlen? Auch da gibt es keine Unterstützung. Der Staat hält selbst ein Minimum an Unterstützung für Bedürftige bereit. – Auch wenn kirchliche Einrichtungen da unschwer besser helfen können, fehlt „das Geld, unsere Mission zu erfüllen“ beklagt Viilma. Die Kirche kümmert sich um alte Gebäude – damit werde sie allzu oft in Verbindung gebracht.

Dabei gab es vor der Besetzung 1940 durchaus diakonische Strukturen in Estland, meint Matthias Burghardt: Auch Diakonissenhäuser, die sich etwa in Tartu um die Ausgegrenzten der Gesellschaft kümmerten. Direkt nach der erneuten Unabhängigkeit von 1991 gab es offenbar viele Straßenkinder, deren Eltern im Ausland arbeiteten oder selbst mit massiven Problemen zu kämpfen hatten. Matthias Burghardt weiß von einem kirchlichen Tageszentrum, das sich um sie gekümmert hat. Da haben sich für ihn die Verhältnisse inzwischen deutlich gebessert. Allerdings sieht er nun in Estland die „Schere“ zwischen arm und reich wieder weiter offen.

Religion als Hobby?

Viele Jugendliche sind bis weit in den Nachmittag hinein in ihren Schulen. Da hat Estland viel investiert, es liegt im PISA-Ranking weit oben. Viilma verweist auf staatliche Förderungen auch beim Sport für Jugendliche: „Wenn die Religion als Hobby gesehen wird, so ist sie gegenüber anderen Freizeitaktivitäten benachteiligt.“ Höchstens am Wochenende gibt es Möglichkeiten für Sonntagsschulen. Der Staat betone seine religiöse Neutralität.

Gleichzeitig sei die Lutherische Kirche an den Feiertagen zum Unabhängigkeitstag von 1920 (24. Februar), zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1991 (20. August) sowie an den Gedenktagen für die Verschleppten von 1941 (14. Juni) und 1949 (25. März) bei offiziellen Veranstaltungen gefragt. Der Erzbischof predigt da vor Ministern. Ebenso die Pfarrer vor regionalen Repräsentanten, nickt Burghardt. 

So einseitig weltlich sei Estland aber nun auch nicht, erklärt ungefragt das Nationalmuseum in Tartu. Den Volksglauben hält es immer noch für präsent: Es zeigt einen „Opferstein“ aus vorchristlicher Zeit – als Beispiel für angeblich mehr als 1.800 bekannte weitere Exemplare im Land, die weit verstreut liegen. Immer noch würden Geldmünzen dort abgelegt – wenn auch offenbar eher Kupfergeld (oben). Nun kämen sie eben dem Museum zugute.

Allerdings schufen protestantische Bibelübersetzungen auch die Grundlagen für die estnische Schriftsprache und allmählich auch für eine bessere Bildung der Bevölkerung. 

Sorge um den Nachwuchs

Seit 1940 gibt es keinen Religionsunterricht mehr in Staatlichen Schulen. Nur wenn ein ausreichender Prozentsatz der Eltern dem zustimmt, wird er möglich, so Burghardt, wie etwa bei ihm in Keila. 

Oder er findet in den wenigen Privatschulen statt, die von der Kirche betrieben werden. „Das sind natürlich riesige Kosten, nur um einige Schüler im Unterricht zu erreichen“, so Viilma. Die Evangelische Kirche betreibt vier Privatschulen für rund tausend Jugendlichen, insgesamt gibt es 14 christliche Schulen. 

Reicht das als Grundlage für ausreichend Theologiestudierende? „Wir haben kein Problem mit Pfarrernachwuchs, aber mit jüngeren Pfarrern“, antwortet Urmas Viilma. Oft sitzt der Erzbischof, Jahrgang 1973, Prüflingen gegenüber, die älter sind als er. Immer wieder kämen Mittfünfziger über die Sinnsuche im Leben zur Theologie. Viilma selbst begann nach der Unabhängigkeit 1991 mit dem Theologiestudium, 1998 ordiniert. Seit 2010 war er Pastor der Domkirche Tallinn, seit 2014 Erzbischof der EELK. 

„Das macht natürlich etwas mit einer Kirche, wenn sie wenig junge Pfarrer hat“, gibt Viilma zu. „Und mit dem Theologiestudium, wenn es berufsbegleitend läuft“, etwa mit Wochenendkursen, die meist über drei Jahre verteilt sind. So ergänzt es Matthias Burghardt, dessen Ehefrau Anne bis 2021 am Theologischen Institut der EELK arbeitete. Nun ist sie Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes in Genf. 

Nach dem Studium gibt es für die angehenden Pfarrer ein Jahr Praktikum in einer Gemeinde, die Diakonenweihe und schließlich die Ordination. Doch lohnt sich all das, wenn sie kurz vor ihrer Rente mit dem Beruf beginnen? Nirgendwo steht geschrieben, dass ein Seelsorger mit Mitte oder Ende Sechzig in den Ruhestand zu gehen hat, so Viilma. Praktisch erscheint es allemal, dass sie nebenberuflich zu der bisherigen Qualifikation Seelsorgende sind – und später auch aus ihrem weltlichen Beruf Rente bekommen. 

Das Gustav-Adolf-Werk etwa hat Kontakte zu Pfarrerin Küllike Valk aus dem westestnischen Ridala. Sie wurde mit 57 Jahren zur Pfarrerin ordiniert, nachdem sie mit 50 als Polizistin ihren Ruhestand antrat. 

Ihre Kirchgemeinde arbeitet eng und engagiert mit einem Zentrum für Frauen in einer Notlage oder Betroffene von häuslicher Gewalt zusammen. Die Frauenarbeit des Gustav-Adolf-Werks unterstützt dies in ihrem Jahresprojekt: Sie fördert Treffen der Selbsthilfegruppen, die psychologische Betreuung für Kinder und Freizeiten für sie. Ebenfalls will sie einem inklusiven Café unter die Arme greifen. Dort können sich neben Menschen mit Behinderungen auch Frauen mit wenig sozialen Kontakten treffen. So brauchen sie nicht Gefangene ihrer Verhältnisse zu sein.

=> Wie gelingt ökumenische Zusammenarbeit in Estland?

=> https://www.gustav-adolf-werk.de/estland.html