Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Raimund Kirch zum Reformationstag und zum Aufbruch in Mitteldeutschland vor 35 Jahren
Ein bisschen Neid darf da schon sein. Der 31. Oktober ist seit der Wiedervereinigung gesetzlicher Feiertag in den Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das wohl, als man noch gedacht hatte, dass nach der Wende den Kirchen weiterhin die Aufmerksamkeit geschenkt würde, die sie während der friedlichen Revolution in den letzten Tagen der früheren DDR genossen.
Ich erinnere mich an die Bilder aus Leipzig, wo sich Gläubige und freiheitlich gesinnte Menschen in der Nikolaikirche versammelten. Von wo spirituelle Impulse ausgingen, die wir im Westen bewunderten. Dass auch andernorts oftmals die Kirchengemeinden Ausgangspunkt und Sammlungsort für Dissidenten und Montagsdemonstrationen waren, haben wir erst später erfahren. Auf jeden Fall darf auch 35 Jahre danach diese wichtige Rolle der Kirchen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Damals zeigte sich eine reformatorische Kraft, die vom Christentum ausgehen kann.
Und die wir von Luther her kennen, als er gegen die Missstände der katholischen Kirche, gegen Borniertheit und Aberglauben ankämpfte. Etwas anderes wollte er ja zunächst nicht. Dass daraus der Freiheitsanspruch der Bauern erwuchs, diese sich gegen Adel und Establishment wandten, hat letztlich auch den Reformator überrascht.
Wo immer reformatorische Kräfte wirken, gibt es beides: Aufbau und Zerstörung. Die schrecklichen Religionskriege, welche die Reformationsepoche begleiteten, sollten uns zeigen, dass Licht und Schatten immer beieinanderliegen. Dessen muss man sich immer bewusst sein.
Dass die Kirchen in der früheren DDR sich nach der Wende so schnell wieder leerten, mag enttäuschen, Verzweifeln darüber braucht man nicht. Denn die Erfahrung lehrt, dass trotz mangelnden Katechismus-Wissens und leerer Kirchenbänke die Grundideen des Christentums nicht verloren sind.
Vielleicht hängen wir alle nur zu sehr an Mitgliederzahlen und an Kirchensteuereinnahmen. Wie schon zu Luthers Zeiten geht es letztlich um die Frage nach einem gerechten Gott. Was die Tradition „Gnade“ nennt, macht uns heute frei von dogmatischen Zwängen. Wie sagt der evangelische Theologe Jörg Lauster in seinem Buch „Der Ewige Protest“: Reformation sei kein Ereignis, sie ist eine Haltung.