Sammelband aus der Friedensarbeit der Woltersburger Mühle zur Krisenbewältigung
Sollen wir als Christen Waffenlieferungen für die Ukraine bejahen, da sich viele biblischen Stellen für die Unterstützung der Opfer aussprechen? Oder sind wir zur absoluten Gewaltlosigkeit aufgerufen?
Was genau sagt die Bibel dazu? Ihre Worte sieht der Theologe und Sozialpädagoge Gerard Minnaard nicht als eine Sammlung von „Handlungsanweisungen“, sondern als „Gesprächsraum“ für „ein geschwisterliches Zusammenleben“. Er ist Geschäftsführer des biblisch-politischen Bildungszentrums der Woltersburger Mühle bei Uelzen. Und er ist einer der Herausgeber des Sammelbandes zur aktuellen Friedensarbeit. Viele Beiträge darin sind aus Tagungen dort entstanden. Lässt sich gleichzeitig Frieden und Gerechtigkeit verwirklichen?
Bereits auf dem Nürnberger Kirchentag 2023 diskutierten der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer, gleichzeitig Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), und seine badische Amtskollegin Heike Springhart über die Frage: Ist Jesu Lehre der Gewaltfreiheit oder die Solidarität mit den Opfern höher zu bewerten? Am Ende erklärte Springhart: „Der göttliche Friede, der größer ist als alle Vernunft, das ist der große Horizont. Den werden wir nie schaffen, nicht mit Waffen, nicht ohne Waffen, aber alles, was wir tun, muss darauf ausgerichtet sein, ihn möglichst nahe zu erreichen.“ Darüber soll weiter nachgedacht werden.
Im Gespräch mit Klara Butting, der Mitherausgeberin dieses Sammelbandes und Ehefrau Minnaards, erläutert Friedrich Kramer, wie er durch seine Verwurzelung in der Friedensarbeit der damaligen DDR der 1980-er Jahre geprägt wurde. In der Nachfolge Jesu „können wir den Worten von der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit nicht ausweichen.“ Um Opfer zu schützen, könne man nicht weitere Opfer schaffen. „Beten und Tun des Gerechten“ als „ganzheitliche Lebenshaltung“ gehört für ihn fundamental zusammen. Das Festhalten am Frieden empfindet er als „christologisches Zentralthema“ einer „Liebe, die alles duldet“. Ihn stört bei den aktuellen Kriegsdebatten der „Gestus der Selbstgerechtigkeit“.
Auch Renke Brahms, von 2008 bis 2021 als Kramers Vorgänger EKD-Friedensbeauftragter sowie lange Schriftführer (ähnlich dem Bischofsamt) der Bremischen Evangelischen Kirche, fordert dazu auf, „friedenstüchtig“ zu werden. In der biblischen Apokalypse würden nicht Gläubige gegen Ungeheuer kämpfen, sondern Gottes Boten. Dort seien die Katastrophen „nicht das Ende, sondern der Durchgang zu einer neuen Welt, die Hoffnung auf eine neue Schöpfung und Gottes Gegenwart“. Wir sollten uns nicht durch die vielen Krisen geschüttelt einer Untergangsstimmung hingeben. Aber auch nicht unserem Bedürfnis nach Sicherheit – nach Bonhoeffer muss „der Frieden gewagt“ werden.
Leider äußerten sich ihre bekannten Diskussionspartnerinnen und -partner nicht selbst in dem Sammelband. Doch Mitherausgeberin Klara Butting, Pastorin der Hannoverschen Landeskirche, außerplanmäßige Professorin für Altes Testament in Bochum und Leiterin des Biblischen Zentrums an der Mühle, setzt sich ausdrücklich mit Bibeltexten auseinander, die Gewalt fordern:
Sind nicht gerade die alttestamentlichen Texte rund um die Wüstenwanderung, die Landnahme und die Kämpfe mit anderen Bevölkerungsgruppen im Gelobten Land voller göttlicher Rechtfertigung der Gewalt? Doch auch hier ist es Gott selbst, der die Feinde Israels vernichtet – angefangen von den Soldaten des Pharaos, die eben nicht durch Mose und das Volk sterben, sondern durch Gott Handeln im Schilfmeer.
Zur Landnahme muss Israel aber den „Bann“ an sieben Urvölkern vollziehen, die zuvor im Land Kanaan gelebt haben. Das sei aber eine spätere Erzählung, so Butting. Historisch plausibler sei es, dass in Israel Nomadenvölker sesshaft geworden seien und sich mit Ausgestoßenen verbunden hätten. Bei dem Aufruf zur Gewalt gegen sie „geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit“.
Das deuteronomistische Geschichtswerk von der Genesis bis zum 2. Königsbuch ist erst im Exil entstanden, „wobei die Landnahme von der Erfahrung des Scheiterns des Lebens im Land her reflektiert wird.“ Ein erhoffter Neubeginn „wird abhängig gemacht von der radikalen Abgrenzung von Machtverhältnissen“, die zum Exil geführt haben. „Das alles nimmt den Texten nicht ihren Schrecken. Sie sind unerträglich zu hören.“ Trotzdem sollen „sie im Kontext prophetischer Geschichtsschreibung zu lesen“ sein.
Schon „im 8. Jahrhundert war es einer prophetischen Minderheit klar, dass der Versuch, Sicherheit durch Aufrüstung und Militärbündnisse zu gewinnen“, nicht funktionierte. Da wird das Gottesvolk „zu einem Spielball der Machtpolitik“, „der es nicht gewachsen war, sondern nur durch Schaffen gerechter Lebensverhältnisse und im Vertrauen auf Gott überdauern konnte“.
Bereits die Schöpfungsgeschichte sei keine „Gewaltorgie“ wie etwa bei den Babyloniern, in der sich die Götter gegenseitig zerstückeln, sondern entsteht durch das kreative Wort Gottes. Klara Butting verweist auf die Vollendung der Welt in der Sabbatruhe als „Auszeit vor dem Getriebe der Welt“ für den Menschen „Räume gestalten“ sollen. Diese Unterbrechung kann und soll Spiralen der Gewalt aufbrechen.
Als weiteres Beispiel dafür legt Benjamin Isaak-Krauß, Pastor an der Mennonitengemeinde Frankfurt am Main, eine Geschichte Elisas aus: Dieser verhindert den Überfall des aramäischen Königs und die geplante Entführung des Königs von Israel (2. König, 6,8–23). Darüber predigte der Pastor bereits kurz nach Kriegsbeginn im April 2022.
Himmlische Heerscharen unterstützen Elisa. Zudem erblinden die Feinde. Der Prophet führt sie aber nicht zur Vernichtung, sondern zu einem Festmahl. „Das wahre Wunder in der Geschichte … ist, dass es Elisa gelang, den König Israels davon abzuhalten, die wehrlosen Feinde abzuschlachten, und stattdessen mit ihnen ein Festmahl zu feiern. Mit dieser kreativen Taktik entwaffnen sie ihre Gegner nachhaltig.“ – Die Überfälle hörten auf.
Auch Butting äußert sich gegen die „Militarisierung der Seelen“. Konkret gibt es nur indirekt Handlungsempfehlungen, schließlich habe, „die Kirche politisch wenig Einfluss“, aber quasi Lufthoheit auf die Seelen. Langfristiges Ziel könne nicht die Verteidigung sein, sondern Versöhnung. Hier spannt sich der Bogen der Auslegungen, die im Buch nach ihrer jeweiligen biblischen Grundlage geordnet sind, hin zur Hoffnung auf Gottes Eingreifen gegen Gewalt. Menschen sollen sie nicht selbst anwenden, aber Raum für Auszeiten davor schaffen. Ist das wenig oder viel? Susanne Borée
Hg.: Klara Butting & Gerard Minnaard: Der Friede Gottes …, 2024, ISBN 978-3-932810-73-2, 200 Seiten, 15 Euro. Mehr online unter https://www.woltersburger-muehle.de – auch mit Infos über die Tagungen.