Lebenslinien: Schicksale und Fluchtwege deutscher Rabbiner nach 1933 intensiv erforscht
Sollten sie nicht bis zuletzt bei Ihren Gemeinden bleiben, um ihnen die nötige Unterstützung zu geben? Während der Nazi-Zeit standen gerade die Rabbiner in Deutschland vor einer existentiellen Entscheidung. Denn auf sie wurde gleichzeitig in vielen Fällen der meiste Druck ausgeübt – schließlich galten sie für die Nazis als Repräsentanten der jüdischen Gemeinden. In der Progromnacht im November 1938 brannten nicht nur die Synagogen, sondern ihre Rabbiner wurden gezielt eingekerkert – sie kamen oft nur dann frei, wenn sie sich verpflichteten, sofort zu verschwinden.
Nur wohin? Unter den wenigen Schlupflöcher, die ihnen noch blieben, waren die USA. Zwar war es Ende 1938 oder Anfang 1939 kaum noch möglich, für sie ein reguläres Visum dorthin zu bekommen, doch es gab noch so genannte „Non-Quota-Visa“. Diese waren zunächst zeitlich befristet, wenn sie übergangsweise lehren oder eine Gemeinde übernehmen konnten. Da finden sich tragische Briefwechsel, hat Cornelia Wilhelm erforscht. Akribisch hat sie als Professorin in der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München vielfältige Verbindungslinien gerade zwischen deutschen Rabbinern und den USA untersucht.
„The last generation of the german rabbinate“, so lautet der Titel ihres jüngsten Werkes, das gerade erschienen ist – und zwar im Original auf Englisch. Schließlich soll es eine Grundlage für Forschungsgespräche in den USA oder dann noch in Israel bilden. In den damaligen Briefwechseln wurde ausführlich diskutiert, ob das Profil einzelner Geistlicher zu einer amerikanischen Einrichtung passte oder nicht – während sie in Todesgefahr schwebten
Gerade liberale Rabbiner und Theologiestudenten zog es in die USA: Gut 250 von ihnen gelang die Flucht. Julian Morgenstern, Präsident am Hebrew Union College (HUC) in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio spielte eine besondere Rolle bei der Evakuierung von Kollegen und Studenten von der Liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er arbeitete dabei gegen viele Widerstände. Er selbst war ein Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer, 1881 geboren, und hatte in Berlin und Heidelberg studiert.
Leo Baeck wiederum war in Berlin einer der führenden Vertreter des liberalen Judentums und Dozent an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er kümmerte sich von Berlin aus um die Evakuierung seiner Studenten. Er zog jedoch London vor, da dort auch eine seiner Töchter lebte. Seine eigene Emigration lehnte er ab. 1942 wurde er nach Theresienstadt verschleppt – jedoch überlebte er.
Neben der liberalen Hochschule gab es in Deutschland das eher orthodox geprägte Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau sowie das Orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin. Für viele konservative und gerade orthodoxe jüdische Gelehrte gab es eher Möglichkeiten im damaligen Palästina.
Irrfahrten auf der Flucht
Viele gingen auch in Deutschlands Nachbarländer, in die Niederlande oder Frankreich – oder ins deutschsprachige Milieu Prags. Dort saßen sie nach den schnellen Eroberungen der Nazis in der Falle. Solche Erfahrungen der Ausweglosigkeit prägen sicherlich auch das aktuelle Bewusstsein in Israel über den 7. Oktober hinaus. In diesem Sonntagsblatt steht ganz bewusst dieses Gefühl eher im Vordergrund als aktuelle Debatten zu Schuldfragen.
Besonders dramatisch etwa verlief die Fluchtgeschichte von Rabbi Max Grunewald. Er war bereits 1936 in die USA gelangt, doch kehrte er Anfang 1937 nach Deutschland zurück, um zusammen mit seiner Frau, einer Medizinerin, und seinem Sohn nach Palästina zu fliehen. Dorthin gelangten sie im August 1938.
Aber als liberaler Rabbiner fand er im Gelobten Land keine Anstellung. So ging er im Mai 1939 allein nach New York. Nach einem Jahr wollte er nach Palästina zurückkehren, doch nun überholten ihn die Kriegsereignisse ein. Sein Schiff wurde von Lissabon direkt nach Amerika zurückgerufen, da Italien in den Krieg eintrat. Grunewald gelang nur mühsam die Rückkehr in die USA. Im März 1941 wollte er über Kuba ein permanentes Visum bekommen. Schließlich erhielt er eine Anstellung in New Jersey. Doch erst 1946 erhielt er dort ein volles Gehalt und konnte seine Familie nachholen.
Über die Frauen und Familien der Rabbiner gibt es noch weniger Informationen als über die Gelehrten selbst: Selma Stern-Taeubler, die Ehefrau des jüdischen Historikers Eugen Taeubler, war selbst Historikerin. Sie floh an der Seite ihres Mannes. Beide erreichten 1941 Cincinnati. Er konnte dort lehren, sie fand eine Arbeit als Archivarin. Und Martha Appel organisierte für ihren Ehemann Rabbi Ernst Appel aus Dortmund und ihre Familie bereits 1937 die Flucht in die Niederlande, da er aufgrund des staatlichen Drucks erkrankt war. Von dort aus gelangten sie doch noch in die USA.
Abraham Joshua Heschel aus Warschau (* 1907) wollte 1933 gerade an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sein Studium mit der Promotion abschließen. Allerdings brauchte er zwei ganz Jahre, bevor er sie publizieren und damit abschließen konnte. 1938 wurde er mit der damaligen „Polenaktion“ der Nazis – wie viele andere Juden polnischer Abstammung – in sein Herkunftsland deportiert. Das hätte für ihn wie für viele andere das Ende sein können: Doch im Sommer 1939 glückte ihm noch die Flucht nach London und schließlich in die USA. Ab 1940 lehrte er in Cincinnati. Er setzte sich in den 1960er Jahren für die Bürgerrechtsbewegung der Farbigen in den USA ein. Er prägte die jüdische Theologie nach dem Holocaust sehr.
Seine Tochter Susannah ist ebenfalls Professorin für Jüdische Studien. Zu ihren Schwerpunkten gehört der jüdisch-christliche Dialog und feministische Theologie im Judentum.
Blieb es nun bei der „letzten Generation der deutschen Rabbiner“? Die ersten Rückkehrer kamen als Militärgeistliche der amerikanischen Armee und halfen den Überlebenden: Erst langsam fanden sie für sich wieder eine Zukunft in Deutschland. Und nach der Gründung des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam – auch wenn es gerade mit allerlei Schwierigkeiten und Konkurrenzstreitigkeiten zu kämpfen hat – sowie des Orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin in den 1990er-Jahren gibt es wieder Ausbildungsmöglichkeiten für sie. Auch hier erscheinen manche Auseinandersetzungen von außen betrachtet nur als schwer nachvollziehbar – doch haben auch sie mit den skizzierten Entwicklungslinien zu tun. Jüd
Das Werk lässt sich aufgrund der intensiven gesellschaftlichen Förderung des Projekts auch als pdf frei herunterladen unter: https://publish.iupress.indiana.edu/projects/the-last-generation-of-the-german-rabbinate