„Schlechte Zeit trennt Spreu vom Weizen“

70
Propst Kristjan Luhamets vor dem Christusgemälde von Aapo Pukk in der Pauluskirche in Tartu sowie Blick auf den Turm dieses Gotteshauses. Fotos: Borée
Propst Kristjan Luhamets vor dem Christusgemälde von Aapo Pukk in der Pauluskirche in Tartu sowie Blick auf den Turm dieses Gotteshauses. Fotos: Borée

Pauluskirche in Tartu: Gesegnete Gemeindearbeit inmitten der weltlichen Gesellschaft

Schlechte Zeiten sind kein Problem für die Kirche – ganz im Gegenteil, da ist sich Kristjan Luhamets sicher. Der Pfarrer leitet die Pauluskirche, die größte evangelisch-lutherische Gemeinde in der südestnischen Stadt Tartu. Gleichzeitig ist Luhamets Propst, vergleichbar mit dem Dekansamt, in der Region mit fünf städtischen Gemeinden sowie 15 weiteren im Umland.

Außerdem „gab es schon schlimmere Zeiten“ – wirtschaftlich genauso wie politisch (vergleiche das Editorial in Sonntagsblatt-Ausgabe 38). Mehr noch: „Die Kirche ist durch die Sowjetzeit durchgekommen.“ Natürlich waren die Zeiten der Verfolgung „schmerzhaft, aber geistig gesund.“ Da ist es Kristjan Luhamets wichtig, im Einklang mit der Bibel zu stehen. Menschen können nicht selbst entscheiden, welcher Bibeltext gut oder schlecht sei – etwa im Bereich der Partnerschaften. Gleichzeitig ist im Gespräch mit ihm die Begeisterung über Gottes Wirken spürbar. Es lassen sich noch einmal ganz neue Perspektiven über die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche (EELK) gewinnen als in anderen Regionen.

Kristjan Luhamets, geboren 1980, hat 2003/04 mit einem Stipendium des Gustav-Adolf-Werkes in Leipzig studiert, er spricht fließend Deutsch. Sein Vater Joel, geboren 1952, war 2015 bis 2024 Bischof im Süden Estlands, um Tartu. 

Die Pauluskirche erstrahlt seit 2015 wieder in alter Pracht. Das war kurz vor ihrem 100. Geburtstag. Sie ist als einziges estnisches Gotteshaus im Jugendstil erbaut, wie Kristjan Luhamets erklärt, während er durch sie führt. Der finnische Architekt Eliel Gottlieb Saarinen hat sie errichtet. 

Geweiht wurde die Kirche ausgerechnet im Schicksalsjahr 1917. Im Zweiten Weltkrieg, 1944, brannte sie aus. Nach dem Wiederaufbau, der bis 1966 dauerte, erhielt die Gemeinde nur einen Teil des Gebäudes zurück. Selbst die Kirchenhalle wurde geteilt, berichtet Kristjan Luhamets. Ein Teil des Altarraumes und Seitenflügel dienten typisch sowjetisch als Lagerräume für Museen.

Auch nach der Unabhängigkeit Estlands 1991 dauerte es bis 2005, bis die Kirchengemeinde wieder das komplette Gebäude erhielt. Es musste nun grundlegend renoviert werden, mit kommunaler Unterstützung sowie eines europäischen Unterstützungsfonds.

Nun erstrahlt das Kirchenschiff in neuem Glanz – und bietet Raum für gut tausend Besucher. Es wird überragt von einer ebenfalls riesigen Orgel mit 56 Registern. Zu einem normalen Sonntagsgottesdienst kommen nach Schätzungen Luhamets rund 200 Gemeindemitglieder. Als regelmäßige Spender und Spenderinnen für die Paulusgemeinde gewöhnlich rund 1.500 Personen. Viermal so viele gehören dem weiteren Kreis der Gemeinde an – nicht nur für estnische Verhältnisse eine riesige Gemeinde.

Multifunktional aufgestellt

Der Wiederaufbau bot die Chance, das Gotteshaus multifunktional aufzustellen: Direkt neben dem Altarraum schließt Pfarrer Luhamets ein Studio auf, angefüllt mit modernster Übertragungstechnik. Denn die Gottesdienste werden gleichzeitig bei Youtube, Facebook sowie im Radio übertragen. Digital seien noch einmal 200 bis 300 Interessierte mit dabei – aber via Radio bis zu 20.000, so Luhamets. Freiwillige kümmern sich um die reibungslose Übertragung. Außerdem gibt es parallel zu den Gottesdiensten zwei Kindergottesdienstgruppen für unterschiedliche Altersklassen. Dazu kommt samstags eine Sonntagsschule.

In der Krypta findet sich eine Urnenwand für Bestattungen sowie eine Seite, die auch die Asche ohne Urnen aufnimmt. Auch hier noch ein stattlicher Gottesdienstraum. Teils fänden zwei Beerdigungen, zwei Hochzeiten oder jeweils eine von beiden gleichzeitig statt. Dann müssten nur die Angehörigen ihre richtige Gruppe finden. Im Erdgeschoss gibt es eine gute sortierte christliche Buchhandlung. Dort finden sich auch Übersetzungen auf Englisch oder gar Deutsch.

Doch die Nebenräume des Gotteshauses und des darin integrierten Gemeindehauses bieten noch viel mehr Möglichkeiten: Sie beherbergen einen Kindergarten mit drei Gruppen für 35 Kinder. 85 Euro kostet ein Platz pro Monat. 

Ein solcher Betrag reicht natürlich auch in Estland nicht für die Betreuung. Hinzu kämen aber Zuschüsse der Kommune, die so keinen eigenen Platz vorhalten muss, sondern auf die Kirche oder andere freie Träger zurückgreifen kann. Auch hier scheint die Zusammenarbeit mit der Kommune entgegen allen sonstigen Entwicklungen im Land hervorragend ausgebaut zu sein.

Die Erziehung „besser zu machen“ als andere, ihr eine besondere Qualität zu geben, das ist für Kristjan Luhamets die Herausforderung. Für die Aufnahme der Kinder selbst gibt es keine Voraussetzungen, doch die Erzieherinnen sollen der Gemeinde angehören.

Dazu kommen auf mehreren Etagen – durch einen Aufzug auch barrierefrei erreichbar – viele unterschiedliche Gemeinderäume und eine Suppenküche, um die sich ein eigener Koch kümmert.

Einsatz für Bedürftige

Dort finden regelmäßig Speisungen für Bedürftige statt. Doch sei die Zahl der wirklich Armen gesunken, erklärt Kristjan Luhamets, wenn auch durchaus viele Menschen nicht mehr bei dem Anstieg der Lebenshaltungskosten mithalten könnten. Kamen vor einigen Jahren noch rund hundert Menschen zu den Speisungen, so seien es jetzt eher 30 bis 40 Bedürftige. 

Auch im Rahmen der Suppenküche arbeitet die Paulusgemeinde mit der Kommune zusammen. Oder es ließen sich im Anschluss an Konferenzen noch Reste einsammeln. 

Dabei betont Pfarrer Kristjan Luhamets wieder: „Wir glauben nicht an Geld.“ Daher bräuchten sie auch keine Kompromisse nur deswegen machen. Und: „Die Gläubigen bleiben übrig.“ So ist Luhamets nicht bang: Wenn die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, wie in Deutschland, würde sich „die Spreu vom Weizen trennen“.

=> Zum Beitrag: Renovierte Religion – gelingt Erneuerung?