Grenzüberschreitende Perspektiven

412
Thomas Greif vom Rummelsberger Diakoniemuseum und einer der Organisatoren der Vernetzung. Hans Jürgen Luibl und Hermann Vorländer bei der Tagung (von links). Fotos: Borée
Thomas Greif vom Rummelsberger Diakoniemuseum und einer der Organisatoren der Vernetzung. Hans Jürgen Luibl und Hermann Vorländer bei der Tagung (von links). Fotos: Borée

Zehn Museen forschen länderübergreifend zu protestantischer Migrationsgeschichte

Neuendettelsau. Seit Jahrhunderten stellten Menschen ihre Religion über ihre Heimat. Andere Regionen und Städte nahmen sie auf. Zehn evangelische Museen in Europa aus Bayern, Österreich, Frankreich, Ungarn, Slowenien, Rumänien und ein Museum in den USA gehen Migrationsgeschichten im Zusammenhang mit dem Protestantismus nach. 

Erste Arbeitsergebnisse stellten sie bei einer Tagung Mitte Oktober in Neuendettelsau in enger Zusammenarbeit mit Mission EineWelt vor. Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm übernahm die Schirmherrschaft. Die Europäische Union nahm sie in ihr Förderprogramm „Erasmus+“ auf. Die Tagung organisierten Carina Harbeuther von „Bildung evangelisch in Europa“ in Erlangen sowie Thomas Greif, der Leiter des Rummelsberger Diakoniemuseums. Die protestantische Perspektive „ist nicht engstirnig, sondern hat eine besondere Weite“, erklärte er das Anliegen der Vernetzung. Denn es erfordere Verknüpfungen über Grenzen hinweg. 

Zeitlich und geografisch nähern sich die Museen dem Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Jedes Museum konzipiert dazu eigenständig eine Ausstellung. Der Bogen reicht von der französischen Region Poitou im Westen, wo das „Maison du Protestantisme Poitevin“ eine Ausstellung „Protestantische Auswanderung nach Deutschland“ plant, bis zum Landeskirchlichen Museum im rumänischen Hermannstadt im Osten. 

Dazwischen liegen Neuendettelsau mit der Ausstellung von Mission EineWelt und dem Löhe-Zeit-Museum, das Sozialdorf in Herzogsägmühle und Museen in Slowenien und Ungarn. Das Rummelsberger Diakonie-Museum untersucht, wie sich die Diakonie der Migranten im 20. Jahrhundert annahm.

Die Ergebnisse des Gesamtprojekts sollen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg im Juni 2023 präsentiert werden. Das Fembohaus trägt sie zusammen und bereitet sie für die Öffentlichkeit auf. Roll-Ups mit wichtigen Arbeitsergebnissen stehen für permanente Wanderausstellungen zur Verfüg-
ung. Natürlich ist auch eine gemeinsame Veröffentlichung der grundlegenden Vorträge geplant. Sie ist für März nächsten Jahres vorgesehen. Und Axel Mölckner gestaltet einen gemeinsamen Film. Während der Tagung in Neuendettelsau sammelte er dazu bereits Ideen.

Protestantische Migration

Den Eröffnungsvortrag zu der Tagung in Neuendettelsau hielt Hans Jürgen Luibl, der bis zu seinem Ruhestand unter anderem die Stadtakademie Erlangen leitete. Unter dem Motto „Migration Europa Evangelisch“ sieht er unseren Kontinent nicht nur als Wiege von Nationalstaaten und einer Vielzahl von Kulturen. Nein, er sah ihn bei der Tagung beeinflusst von „Nervenbahnen der Migration“ von der Zeit der Völkerwanderung an. 

Seit der Reformation haben Migrationen von Protestanten das evangelische Kirchenverständnis geprägt. Nach dem Augsburger Religionsfrieden mussten diejenigen ein Land verlassen, die die Konfession ihrer Landesherren nicht nachvollziehen konnten. Das war gerade der protestantischen Seite bei diesem Kompromiss wichtig. Und laut Luibl war auch besonders diese Konfession davon betroffen – zunächst unter Lutheranern Pfarrer und Lehrer.

Allerdings etablierte sich nach der „tektonischen Verschiebung“ der Reformation die neue Konfession schnell und arrangierte sich mit den Machthabern. Wer zu viel wollte, wie Bauern und Täufer, wurde auch von Protestanten verfolgt.

Im 17. Jahrhundert flohen die Böhmischen Brüder unter der Führung von Jan Amos Comenius (1592–1670) zunächst nach Polen und dann in deutsche Lande – voller Sehnsucht nach einem neuen Friedensreich. Comenius dichtete nicht zufällig Lieder, so Luibl, sondern sie dienten als Identifikationspunkte in der Emigration. Sie verhießen neue Gemeinschaft. Als Pädagoge betonte er die Bildung – nur auf sie konnten sich die Geflüchteten verlassen.

Hunderttausende von Hugenotten zogen bald aus Frankreich „furchtlos“ in die Fremde. Sie brachten der Welt das Widerstandsrecht einer Bevölkerungsgruppe auch gegen den Willen der Mehrheit. Die Aufnahmeländer gewannen ihre Kompetenzen und Wirtschaftskraft. Frankreich verarmte wohl auch nicht zufällig durch diesen Aderlass.

Die Salzburger Exulanten gelanten nach ihrer Vertreibung ab den 1730er Jahren natürlich nach Franken, aber auch bis nach Siebenbürgen. Sie reflektierten theologisch die Rolle des Exils für den Glaube und sahen sich in direkter Nachfolge Jesu um Gottes Wort willen. Migranten wurden so über die Generationen hinweg zu einem wesentlichen Teil der Bevölkerung, obwohl sie anders waren: Toleranz war als Konsequenz notwendig, stand aber nicht am Beginn der Entwicklung, so Luibl.

Diejenigen, die in die Neue Welt, nach Amerika oder bis Südafrika vordrangen, lösten keineswegs gegenüber der indigenen Bevölkerung die Forderung nach Toleranz oder Gewissensfreiheit ein, die sie für sich selbst in Anspruch nahmen. Aber die neue Aufnahme der alten Erzählung von dem wandernden Gottesvolk, das durch Leistung Neues schaffen konnte, ging in den amerikanischen Traum mit ein. Allerdings sollte ihre Leistungsfähigkeit nicht das Wesentliche sein, woran Migranten gemessen werden, warnte Luibl. Sie stellen bis heute bisherige Rechts- und Wirtschaftssysteme durch ihre Anwesenheit in Frage und tragen so zur Veränderung bei.

Nach dieser Einführung berichteten Beteiligte der Ausstellungen von protestantischen Migrationserfahrungen in Siebenbürgen und Slowenien, Frankreich und Ungarn. Hermann Vorländer erzählte von seiner Reise in die USA auf den Spuren der religiösen Betreuung fränkischer Auswanderer. Über die Prägung Frankenmuths dort als „Touristenstadt“ berichtete Heidi Chapman via Video. 

Diese Vorträge sollen in die Publikation im kommenden Jahr eingehen, so dass dann genauer auf das Zusammenspiel dieser Bewegungen einzugehen sein wird. Man darf nach dieser Einführungsveranstaltung gespannt sein.

=> Mehr unter anderem unter https://besucher.rummelsberger-diakonie.de/besucherprogramm/diakoniemuseum/