Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern: Neue Auslegung des bekannten Gleichnisses
Wer ist mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: Geh hin und tu desgleichen!
Aus Lk 10, 29–37
Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Eine „Nächsten-Positivliste“ hätte dem Frager auch verraten, wen er nicht beachten muss. Doch Jesus verweigert jegliche Erbsenzählerei. Er dreht die Frage um: Wie werde ich zum Nächsten? Und der Antwort stimmen alle zu: indem ich Not wahrnehme und – helfe.
Helfen ist ein hoher Wert. Wenn Menschen keine Hilfe leisten, halten wir sie für herzlos oder scheinheilig. Denn versagen hier nicht zwei Berufsreligiöse? Jüdische Ausleger sehen einen anderen Zusammenhang. Da die beiden außer Dienst sind, verkörpern sie nicht ihre Berufsgruppe, sondern das Volk an sich. Bis heute ordnen sich Juden drei Linien zu: entweder den Priestern von Aaron her, den Leviten von Levi her oder den Israe-
liten von anderen Nachfahren Jakobs her. Dass als dritte Person kein Israelit, sondern ein Samariter kommt, ist der eigentliche Knackpunkt.
Jesus bricht den Kreis auf. Jeder, Israelit oder nicht, kann zum Nächsten werden. Also steht jeder Mensch vor der Frage nach dem Wie und vor der einfachen Antwort: Barmherzigkeit tun.
Doch wenn die Antwort so einfach und Hilfe leisten so selbstverständlich ist – warum bleibt dann so oft Hilfe aus? Ein moderner Grund ist enttarnt: Zeitdruck. In den 1970er Jahren starteten zwei Psychologen in den USA das „Samariter-Experiment“. Theologiestudierende sollten vor einer Kommission ein Kurzreferat über das Gleichnis halten. Die einen wurden dabei unter Zeitdruck gesetzt, die anderen nicht. Auf dem Weg zur Prüfung begegneten alle einem hilfsbedürftigen Mann. Von den Eiligen half nur jeder Zehnte. Aus der anderen Gruppe mehr als jeder Zweite.
Demnach beeinflusst Zeitdruck das Verhalten stärker als Glaube oder Moral. Das ist bedenklich für eine Gesellschaft wie die unsere, in der Zeitdruck allgegenwärtig ist. Zeitdruck untergräbt unsere Mitmenschlichkeit. Und so lehrt uns der Samariter auch: Lass dich nicht hetzen. Und wenn du Not siehst, nimm dir Zeit!
Jutta Holzheuer, Dekanin in Rothenburg o. d. T.
Lied EG 592: Du schenkst uns Zeit, einander zu begegnen