Kirche durchdrang die Welt – und befreite

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Joachim von Sandrart: Muttergottes mit Kind und Johannesknaben, Allegorie auf den Westfälischen Frieden 1648.Bild: akg
Joachim von Sandrart: Muttergottes mit Kind und Johannesknaben, Allegorie auf den Westfälischen Frieden 1648.Bild: akg

Christliche Konfessionen in Europa mischten sich oft in Machtpolitik, doch begrenzten sie

War es der große Sündenfall des Christentums, sich zu sehr auf die Staatsmächte zu verlassen? Wurden die christlichen Kirchen dadurch zu kleinen Kindern, die eher unter Aufsicht der weltlichen Herrn als himmlischer Gewalten spielten? 

Dies begann vor 1.700 Jahren, als Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob. Und vor 500 Jahren verließ sich Luther auf seinen Landesfürsten Friedrich den Weisen als Schutzherrn. „Bei der Bewertung von zwei Jahrtausenden Christentum im lateinischen Europa führt es aber in die Irre“ sich dieser Kritik anzuschließen, so Heinz Schilling gleich zu Beginn seines Werkes „Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa“.

Der Historiker, der gerade über die Frühe Neuzeit forscht und zuvor beachtenswerte Biographien über Karl V. sowie über Martin Luther vorlegte, hält die „Welthaftigkeit“ für einen wichtigen Faktor westlichen Christentums. Dieses habe „nie von der Welt abgehoben existiert oder sich gar ohne Welt realisieren“ lassen – nachdem die Naherwartung auf die Wiederkunft Christi ausblieb. 

Allein schon dem Investiturstreit im hohen Mittelalter zwischen Kaiser und Papst kam für Schilling da fundamentale Bedeutung zu. Beide Gewalten hielten sich nach langem Ringen in Schach und gelangten in ein mühsam austariertes Gleichgewicht: „Erst die daraus resultierende Relativierung des Hoheitsanspruchs sowohl der Kirchen wie des Staates ermöglichte den Durchbruch der Freiheitsrechte des Individuums.“

Klöster und Domschulen führten antike Bildungsideale fort und erweiterten sie zum traditionellen universitären Kanon. Im hohen Mittelalter entdeckten sie das Römische Recht wieder. Außerdem beanspruchte die Kirche, den Frieden Gottes gegen Fehden und die Gewalt des Stärkeren durchzusetzen. 

Da sieht Schilling auch Unterschiede zum orthodoxen Christentum, dessen Perspektive sich mehr auf das Jenseits richte und das niemals mit einem ähnlichen Machtanspruch den weltlichen Herrschern entgegentrat. Dagegen musste sich das westliche Christentum mit der Welt verbünden und seine Repräsentationsformen übernehmen. 

Nach der Reformation erhielt Luther den Schutz des Landesherrn. Und in enger Verbindung mit ‚ihren‘ Konfessionen bekamen Fürsten neue Stärke und Legitimation, ja fast eine sakrale Überhöhung als religiöse Schutzherren. Doch sie konnten ihre Bündnispartner nicht mehr frei wählen, sondern nur innerhalb ihrer Konfession: Allein Frankreich tanzte gern mal aus der Reihe.

Lebensnorm verinnerlicht

Aber: „Die Konfessionalisierung gestaltete auch die Gesellschaft an den Wurzeln um. Denn die mit ihr verbundene geistlich-sittliche Formierung prägte das öffentliche und private Leben nachhaltig.“ Die Untertanen folgten einheitlich normierten „Verhaltens-, Denk und Mentalitätsformen bei den Individuen, den
sozialen Gruppen sowie der Gesellschaft insgesamt“, zumal „die Konfessionalisierung die alten stän-di-schen Zwischengewalten Klerus, Adel und Städte ausschaltete oder entscheidend schwächte“. 

Und dies längst nicht nur bei den Protestanten: Natürlich verinnerlichten gerade Calvinisten durch die „Kirchenzucht“ ehrbares Verhalten. Wer dies verletzte, musste rituell die Reinheit der Gemeinde wieder herstellen – zumindest durch öffentliche Buße. Bei Lutheranern hinterließen regelmäßige Visitationen, Predigten und ständige Ermahnungen ähnliche Spuren. Auch unter Katholiken hatten Beichte und Inquisition eine ähnliche Wirkung, so Schilling. Die Gegenreformation förderte gleichfalls Bildungsstandards.

Kirchenbücher dienten als Vorform der Verwaltung. Das verhalf nicht nur dem Absolutismus zum Durchbruch. Die verinnerlichten Normen und ihre Disziplin förderten später auch das Arbeitsethos beim Übergang zur Industrialisierung.

Die religiösen Absolutheitsansprüche mündeten in den Dreißigjährigen Krieg, so Schilling. Schon im Vorfeld ließen sich die konfessionellen Konflikte unter apokalyptischen Vorzeichen deuten: Die Kriegsparteien verstanden sich jeweils als Mächte des Lichts, die unter Führung der Heiligen oder himmlischen Gewalten gegen Dämonen oder den Antichrist kämpften. Und doch gelang es in Europa, diese „Selbstzerstörung“ zu überwinden – nicht „gegen das Christentum, sondern mit seiner Hilfe“. Seit Mitte der 1630er Jahren gewannen die Vorstellungen von dem göttlichen Friedensreich neu Raum.

In diesem Zusammenhang stellt Schilling etwa das Bild der „Muttergottes“ Sandrarts vor (oben). Dieser Nachfahre calvinistischer Glaubensflüchtlinge aus den südlichen Niederlanden wuchs in Frankfurt auf, wechselte ins lutherische Nürnberg, nahm aber auch immer wieder Aufträge katholischer Herrscher an. Nun beobachten Maria und Engel aufmerksam und besorgt zwei sehr irdisch erscheinende Knaben. Umarmen sie sich oder ringen sie miteinander? Ihr Benehmen darf nicht mehr außer Kontrolle geraten! 

Paritätische Städte wie Dinkelsbühl oder Augsburg mit beiden Konfessionen auf engstem Raum brauchten sehr austarierte Regeln – zumal bis 1700 unterschiedliche Kalender galten. Es gab nicht nur verschiedene Daten, sondern auch der Festkalender mit den dazugehörigen Ruhezeiten war unterschiedlich – schwierig für Handel und Wandel. Da erst übernahmen Protestanten den gregorianischen Kalender. 

Da geht Schilling auch manchen Nebenlinien nach. Man merkt dem Buch an, dass es sich ursprünglich aus verschiedenen Aufsätzen formt.

Kirchen als vergängliche Größe im Abendland?

Erst Pietismus und Aufklärung begriffen Frieden und Ordnung nun weltlich. Das ethische Wohlverhalten des Einzelnen und der Glaube wurde zur Privatsache. Das „christliche Abendland“ benötigte nicht mehr die Form der Kirche, nur noch den Willen, die Welt aus biblischem Geist mitzugestalten – oder zumindest den Anspruch zu erheben. Damit begann der Weg des Christentums zu einer Minderheitenreligion. 

Damit sind wir bei Dietrich Bonhoeffer, auch wenn er in Schillings Buch keine Rolle spielt: Kann es sein, dass die christliche Religion „eine geschichtlich bedingte und darum vergängliche Ausdrucksform der Menschen“ gewesen ist? (Widerstand und Ergebung, Brief vom 30.4.1944). Er denkt über ein Christentum in der „Mitte des Lebens“ und nicht als Notanker an den Grenzen menschlicher Existenz und Erkenntnis nach. Gleichzeitig spricht Bonhoeffer aber auch von einer „Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus“. Wie kann dies Raum gewinnen – etwa als Gegenentwurf zu irdischem Machtstreben?

Heinz Schilling: Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa, Herder 2022, ISBN Print 978-3-451-38544-5, 28,00 Euro, 472 S., auch E-Book.