Für Krisenzeiten berufen

617
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über die Zeit der Gnade

Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht: „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 

aus 2. Korinther 6, 1–6.9–10

Wer möchte das nicht, groß rauskommen und über allem stehen? Und wer erlebt nicht in einem jetzt schon zwei Jahre andauernden Zustand genau das Gegenteil? Kleingemacht, so fühlen sich viele Menschen – egal auf welche Weise. Betroffen von Corona sind alle. Aber nicht nur das: Die Erfahrung der Pandemie hat nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern auch die Wahrnehmung voneinander verändert. Sorgen, Trauer, Auseinandersetzungen, Verleumdungen, Verwirrung, Angst, Depression, Verluste, Unfrieden, Ratlosigkeit, Abbrüche, Veränderungen …

Wenn G nur noch für Geimpft, Genesen oder Getestet steht, wo bleibt dann das große G der Gnade Gottes, mag sich so mancher da fragen. Und da sollen sich Menschen vom Apostel Paulus tatsächlich dazu ermahnen lassen, die Gnade Gottes nicht vergeblich zu empfangen? Und da soll jetzt tatsächlich der Tag des Heils angebrochen sein? Umgekehrt gefragt: Wann, wenn nicht in solchen Krisenzeiten bewährt sich der christliche Glaube?

Gerade jetzt, in einer Zeit voller Widersprüche und Unsicherheiten muss uns daran gelegen sein, die Gegenwart der Gnade Gottes nicht zu verspielen. Und der uns das zuruft, ist kein geringerer als der Apostel Paulus, dessen Leben, dessen ganze Existenz, durch eine Fülle von leidvollen und widersprüchlichen Erfahrungen gekennzeichnet ist. Ein ganzer Katalog von Erfahrungen wird uns geschildert.

Menschliche Erfahrung wird also gerade nicht geringgeschätzt oder in ihrer Bedeutung geschmälert. Alles, was wir an Widrigkeiten erleben ist ja real. Aber gerade darin erfahren wir die Kraft Gottes. In der Befähigung mit diesem Leiden umzugehen. Göttliche Kraft ist die Quelle menschlicher Stärke.

Vor Gott kommen wir in aller Schwachheit und in unserer Anfechtung groß raus. Er macht uns groß durch seine Nähe, sein Gegenüber, seine Gnade. Gerade dann, wenn wir uns ganz unten fühlen, lässt er uns über allem stehen.

Zugegeben, der Weg hin zu dieser Erkenntnis ist nicht einfach. Ein Bild kann uns dabei vielleicht helfen. Ich denke an einen der vielen Aussichtstürme, die sich an den unterschiedlichsten hochgelegenen Orten finden. Meist sind dies Aussichts-türme, die auf anstrengenden und gewundenen Treppen hin in schwindelerregende Höhe auf ein Aussichtsplateau führen und dann einen atemberaubenden Blick in die Ferne bieten.

Mit den Worten des Paulus nähern wir uns einem solchen Turm. Über seinem Eingang stehen die Worte: „Empfangt die Gnade Gottes nicht vergeblich.“ Im Inneren verengt sich der Raum und wir beginnen die steilen Stufen emporzusteigen. Immer wieder sind da Treppenabsätze mit Nischen, an denen wir innehalten und nachdenken über die Aufzählung des Paulus und über die Anknüpfung seiner Erfahrungen im eigenen Leben.

Der letzte Treppenabsatz endet wieder an einer Tür, über der geschrieben steht: „als die nichts haben und doch alles haben.“ Wenn wir das erkennen, sind wir schon weit gekommen. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt! Wir öffnen die Tür zur Aussichtsplattform: Hier tut er sich auf, der Horizont der Gnade Gottes: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“

Tief durchschnaufen nach dem anstrengenden Aufstieg, den Blick schweifen lassen, zur Ruhe kommen, über allem stehen können und groß sein in Gott: „Denn der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht“ (Ps 91,9)

Dekanin Ulrike Schorn, Kronach