Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt von Inge Wollschläger
Das Editorial zum Hören:
Und zum Nachlesen:
In meinem Zuhause steht ein Bild meiner Großmutter. Ich kannte sie nicht. Sie verstarb, als ich ein Kleinkind war. Meine Cousine schenkte mir das Foto, denn es
ist eines der wenigen, auf dem sie ein feines Lächeln im Gesicht hat. Vielleicht liegt es an der Frau, die neben ihr steht und die sie in diesem Moment zum Lächeln brachte. Vielleicht war für sie in diesem einen Moment die Welt
in Ordnung. Es kennt niemand mehr die Unbekannte, die neben meiner Großmutter steht. Dieses Bild wurde vor mehr als fünfzig Jahren aufgenommen. Trotzdem hat dieses Bild den Weg in mein Heim und mein Herz gefunden.
Es braucht für jeden von uns, der diese Zeilen liest, zwei Elternteile: Vier Großeltern. Acht Ur-Großeltern. 16 Ur-Ur-Großeltern. Und so geht es immer weiter.
Immer höher wird die Zahl, wenn wir in der Ahnenreihe zurückrechnen. Ich staune, wann immer ich diese Zahlen sehe. In einem Zeitraum von 400 Jahren brauchte es 4.094 Menschen vor mir, damit ich lebe. Es ist Mathematik, die nicht bestechlich ist. Ohne Vater und Mutter geht es nicht weiter mit der Lebenslinie. Ich sehe das Geflecht der Linien, aus denen ich geworden bin, vor mir und es berührte mich zutiefst zu sehen, wie viele Menschen an meiner Entstehung beteiligt waren. Wie mögen sie gelebt haben? Welche Neigungen hatten sie? Welche Träume mögen sie gehabt haben und welche Hoffnungen.
„Du bist hier als das Resultat der Gebete deiner Ahnen“, las ich einmal. Was meine direkte Ahnenlinien – meine Eltern – betrifft: Es verging bisher sicherlich kein Tag, an dem nicht für meine Schwester und mich gebetet wurde. Und mittlerweile für alle Enkelkinder.
Ob meine Großmutter auch gebetet hat? Es ist nicht überliefert. Ein einfaches Leben hatte sie nicht – wie so viele Menschen ihrer Generation.
Heute jedenfalls steht sie an einem schönen Platz, an dem ich täglich oft vorbeigehe. Manchmal plaudere ich ein wenig mit ihr und staube das Foto sorgfältig ab. Meine Großmutter lächelt dazu milde – so scheint es – aus dem schwarz-weißen Foto.
Irgendwann wird man vielleicht auch an meinem Foto vorbeigehen. Ich bin dann eine mehr in der langen Ahnenreihe meiner Familie, die in meinen Kindern weiterleben wird. Sie werden durch meine Gebete hoffentlich getragen sein.