Prophetische Wegweisung

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Axel Töllner. Pablo Gargallo (1881–1934): Der große Prophet. Fotos: Privat/akg
Axel Töllner. Pablo Gargallo (1881–1934): Der große Prophet. Fotos: Privat/akg

„Das Neue Testament – Jüdisch erklärt“ bietet neue Perspektiven zu alten Traditionen

Die Deutung schien sich geradezu aufzudrängen: In dem Gleichnis von den „Bösen Weingärtnern“ (Markus 12 parallel) ist die Ermordung „des Sohnes“ durch die Pächter zentral. Sie führt zu der Drohung, dass der Besitzer die Bösewichte vernichten und seinen Besitz anderweitig verpachten werde. Daraus entwickelte sich in der christlichen Tradition eine antijüdische Wendung.

Doch gibt es eine ähnliche rabbinische Geschichte. Der Unterschied: Diese richtet sich gegen die Feinde des jüdischen Volkes, so David Stern. Sie ging in eine Sammlung des 3. Jahrhunderts ein, wurde aber vorher schon länger mündlich überliefert. 

„Das Neue Testament – jüdisch erklärt“ zeigt diese Beziehungen auf. Wofür bislang eine theologische Fachbibliothek oder eine intime Kenntnis entsprechender Online-Verknüpfungen notwendig war, da genügt nun ein Herumblättern in diesem fast tausendseitigem Werk. 

Es beinhaltet viel mehr als eine Neuausgabe des Neuen Testaments in der Lutherübersetzung von 2017: Die umfangreichen Erläuterungen aus jüdischer Sicht bieten einerseits einen schnellen Zugriff auf viele archäologische und historische Erkenntnisse. Und die Einordnung vieler Details der Jesus-Überlieferung in jüdische Zusammenhänge lässt neu über viele Passagen und ihre Auslegungen nachdenken.

Fünf Jahre hat Axel Töllner mit den Neutestamentlern Wolfgang Krause und Michael Tilly an der Einordnung vieler Details an die deutsche Übersetzung gearbeitet. „Die Pandemie hat uns in die Karten gespielt“, meint Töllner über dieses Werk. Im Zoom-Gespräch mit dem Sonntagsblatt erklärt der Landeskirchliche Beauftragte für den christlich-jüdischen Dialog in Bayern sowie Geschäftsführer im Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, wie seine Kollegen und er in der Zeit seit dem ersten Lockdown konzentriert daran arbeiten konnten.  

Wolfgang Krause hat die amerikanisch-jüdische Neutestamentlerin Amy-Jill Levine und ihr Projekt bereits vor neun Jahren kennengelernt, so Axel Töllner. Es entstand die Idee zu einer deutschen Ausgabe. Es ist nach Töllner die erste Übersetzung.

Zurück zu den Inhalten: David Stern, der bereits das Weinberg-Gleichnis deutete, zeigt in seinem Essay „Midrasch und Gleichnisse“ spannende Verbindungslinien zwischen den Evangelien und den jüdischen Kommentaren auf. 

Auslegung für Heute

In der Auslegungsmethode der Midraschim „erschloss ein sorgfältiges und intensives Studium des Wortlauts den göttlichen Willen für die Gegenwart“. Sie sammelten die Überlieferungen und fassten sie zusammen. Viele Midrasch-Grundlagen stammen schon aus der Spätzeit des Zweiten Tempels, bestätigt auch der bekannte konservative jüdische Theologe Jacob Neusner. Er verstarb bereits 2016, doch findet sich auch sein Essay in der Sammlung.  „Der christliche Fokus auf die Erlösung wird durch die Geschichte Jesu von Nazareth untermauert“, meint er. Es geschieht persönliche Erwählung.  Hingegen betonten Juden „das Leben im Hier und Jetzt, das man als priesterliches Königtum und heiliges Volk führen solle“.

Das Neue Testament entstand Generationen vor den rabbinischen Sammlungen. Dennoch zeigen sich parallele Entwicklungen: „Das Neue Testament benutzt auch Argumentationsformen, die ebenso in rabbinischen Texten begegnen“, ergänzt auch Marc Zvi Brettler in seinem Aufsatz. Selbst das Muster, dass sich in der aktuellen Situation prophetische Verheißungen des Alten Testamentes verwirklichen, ist in der jüdischen Auslegung keineswegs un-bekannt. Nun sind nach den Evangelien in Jesus die Verheißungen erfüllt. Vollzog er in seiner Person nicht auch Details der jüdischen Geschichte nach – wie den Aufenthalt in Ägypten oder die Fastenzeit in der Wüste wie es der Evangelist Matthäus betont?

War er in seiner Passion nicht die Verkörperung des leidenden Gottesknechtes? Oder kann sich das Volk Israel bei den Verfolgungen durch Kaiser Hadrian nach dem Bar Kochba-Aufstand von 135 mit diesem Gottesknecht des Jesaja identifizieren, wie Brettler herausarbeitet?

Was macht es mit mir als Christin, wenn sich so viele Argumentationsmuster der Evangelien in jüdische Traditionsmuster eingebettet finden? Werden alte Gewissheiten durchlöchert – wie bei dem „Propheten“ Gargallos (oben)? Welchen Weg zeigt er? Als Jugendliche hatte ich mich bereits über das neutestamentliche Schema von Verheißung und Erfüllung durch Jesus geärgert. Ich dachte mir: Ja, der hat halt das Alte Testament gelesen – und macht es mal nach. Was beweist das schon? 

Natürlich ist das komplizierter.  Eine Antwort habe ich in dem Aufsatz Ruth Sheridans über „Schriftverheißung und Erfüllung“ gefunden: „Die Schriften Israels sind nicht allein, ja vielleicht nicht einmal in erster Linie für ihren ursprünglichen Adressatenkreis geschrieben, sondern haben einen bleibenden Sinn. Das gilt auch heute für viele Juden und Christen, für die diese Texte Heilige Schrift sind. Jede Generation, jeder Leser versucht, ihre gegenwärtige Bedeutung für sich zu erschließen.“ Wegweisung fällt nicht vom Himmel herab, sondern geschieht bei der Deutung von Zusammenhängen im Dialog mit den Traditionen. Und gleichzeitig im engen Gespräch miteinander.

Dieses produktive Gespräch konnte für Axel Töllner und seine Mitstreiter schon durch das Zusammentreffen bei Videokonferenzen entstehen. Die Herausgeber hatten ganz reale Distanzen zwischen Neuendettelsau oder Saarbrücken, dem Wirkungsort Wolfgang Krauses, zu überbrücken. Oder bis in die USA. Denn umfangreiche Absprachen mit den ursprünglichen Autoren gehörten für sie ebenfalls zum Alltag. 

Für den besonderen „Vertrauensvorschuss“ der amerikanischen Ideengeber ist der Neuendettelsauer besonders dankbar. Schließlich habe er zusammen mit zwei protestantischen Neutestamentlern das Projekt verantwortet. 

So konnte das neue Werk, das nun auf Deutsch Standards setzt, bereits im Herbst erscheinen. „Das war wohl ein produktives Jahr“, so Töllner auch im Blick auf den letzten Synagogen-Gedenkband, der ja auch noch im vergangenen Frühjahr erschien. Und das „Neue Testament“ als ein „zentraler Beitrag zur Erneuerung des christlichen-jüdischen Verhältnisses“.