Unverfügbare Resonanzen erfahren

854
Biografiearbeit im Evangelischen Bildungszentrum Nürnberg
Gestaltete Mitte beim Biografie-Tag des Evangelischen Bildungswerkes mit „Wundertüten“, Impulsen und Blumen – vom Lichtstrahl berührt. Foto: Borée

Biografische Erkundungen im Ev. Bildungswerk lassen biblische Perspektiven erklingen

Nürnberg. Plötzlich bringt ein Satz, ein Blick etwas in uns zum Klingen: Mit einem Mal sind wir angerührt. Oder erleben, welche „Resonanzen“ dies in uns wachruft. Dieser letzte Begriff stammt aus dem gleichnamigen Buch des Soziologen Hartmut Rosa. Die Diakonin Cornelia Stettner und der praktische Theologe Thomas Popp nahmen ihn bei ihrem gemeinsamen Biografietag des Evangelischen Bildungswerks Nürnberg zur „Un-Verfügbarkeit“ auf.

Veröffentlicht war dies Buch noch vor der Corona-Zeit. Doch die Pandemie hat viele Menschen existenziell erschüttert. Bedeutete sie eine heilsame Unterbrechung oder das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber unberechenbaren Mächten? Auf der Skala zwischen diesen Polen hat fast jeder Mensch wohl unterschiedlich reagiert – abhängig von der persönlichen Lebenssituation und dem eigenen Temperament. „Die Grundspannung von Unverfügbarkeit und Lebensgestaltung war und ist durch die Pandemie in besonderer Weise spürbar“, schrieben Stettner und Popp in ihrer Einladung zu dem Fortbildungstag.

Nicht nur da. Darüber konnten sich die 13 Teilnehmenden an dem Tag schnell einig werden. Trotz des nötigen Hygieneabstands zwischen ihnen entstand schnell Nähe – als alle berichteten, was sie an dem Thema direkt angesprochen hatte. 

Biografische Erkundungen in kleineren Gruppen wechselten mit poetischen Impulsen von Cornelia Stettner und einem weiten Horizont
theoretischer Erkundungen ab. Dort standen nicht nur soziologische Impulse von ihr an, sondern auch theologische und biblische Perspektiven von Thomas Popp.

„Erwarte nichts“

So lautet eine Zeile aus dem Gedicht „Rezept“ Mascha Kalékos. Es begleitete aus ihrer Erfahrung der Emigration heraus den Tag. Alles im Leben ist „geliehen“, wenig nur braucht es zum Weiterleben. Aber genauso: „Geh dem Leid nicht entgegen. / Und es ist da, / Sieh ihm still ins Gesicht. / Es ist vergänglich wie Glück.“

Eine zu gleichgültige Haltung, sich in alles zu fügen? Lassen sich nicht die Lebensbedingungen gestalten? Natürlich kann ich etwa meine Gesundheit durch eine entsprechende Lebensführung befördern. Aber nicht garantieren.

„Zerreiß deine Pläne.“

So heißt es in dem „Rezept“ Mascha Kalékos weiter. Die Erfahrung von Glück ist nicht unbedingt „das Resultat von Anstrengung und Planung, sondern geschieht plötzlich in Wechselwirkung mit der Welt“, erklärte Thomas Popp. 

Ich kann mich in Situationen begeben, die mich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit glücklich machen: Etwa ein Sommerabend am See. Skaten, Wandern, Bergsteigen – alles Aktivitäten, die mir dazu verhelfen mich selbst zu spüren. Sie setzen gerade in angenehmer Umgebung eher Glückshormone frei, als wenn ich mich vor den Fernseher hocke.

Doch nicht unbedingt. Auch das Gegenteil kann der Fall sein. Was „mir liegt“, ist bei jedem unterschiedlich. Und von den Situationen abhängig. Den perfekten Sommerabend können Mückenschwärme zunichte machen. Oder sie richten gegenüber meinem Seelenfrieden gar nichts aus. Dafür aber eine unglückliche Erinnerung, die plötzlich in mir auftaucht.

Oder ich erfahre meine Lebendigkeit vom Wind zerzaust, vom
Regen durchnässt. Unverfügbares Glücksgefühl kann gar der Einsamkeit trotzen. „Sei klug / Und halte dich an Wunder“, so Kaléko. Aber genauso: „Den eignen Schatten nimm zum Weggefährten.“

„Halb-Verfügbarkeit“ nennt Hartmut Rosa diesen Zustand, wie Cornelia Stettner darlegte. Ich kann Glück nicht beherrschbar machen. Sonst wird die Jagd danach zur Sucht – und der Rausch immer fahler. Ein gutes Gespräch geschieht trotz bester Bedingungen nur in einem glücklichen Moment. „Und die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort“, wie Joseph von Eichendorff verdichtete.

„Die Glocke am Tor“

kann zum Schwingen kommen, so nennt Mascha Kaléko dies. Dann klingt sie in ihrer Resonanz. Sie reagiert nicht wie ein Echo auf einen Ton, sondern „antwortet auf andere, aber in eigener Frequenz“, wie Cornelia Stettner es ausführte.

Damit schienen die biblischen Impulse auf, die Thomas Popp darlegte. Im 1. Buch Mose „macht der unverfügbare Gott sich verfügbar“, indem er den Menschen zu seinem Ebenbild schafft – und gleichzeitig mit dem Bilderverbot Grenzen zieht. Seine Beziehung zum Menschen ist „dialogisch konzipiert“: Ein Gebet kann mit verwandelnder Kraft Raum gewinnen – ist aber immer ergebnisoffen. 

Der Mensch soll sich „die Erde untertan“ machen, über sie verfügen. Aber in Verantwortung: im Alten Testament immer mit Blick auf die menschlichen Grenzen. Immer mehr sehen wir uns in der modernen Welt mit der Frage konfrontiert, welche dieser Grenzen wir nicht überschreiten dürfen – selbst wenn dies mehr Profit, Fortschritt oder Gesundheit bedeutet. 

Je mehr wir über die Welt verfügen wollen, desto mehr Schaden können wir in ihr anrichten: Dürren und Überschwemmungen sind nur einige Beispiele. Die Erde ist nicht mehr verstummt, sondern schreit schon – ohne Resonanz bei uns. 

„Jage die Ängste fort“

/ Und die Angst vor den Ängsten“, schließt Mascha Kaléko. Sie spannt damit den Bogen zum Beginn ihres „Rezepts“. Das ist jedoch keine Verdrängung. Nicht nur das Glück ist un- oder halb-verfügbar, ebenso das Leid. Nicht immer entspringt es den Konsequenzen unseres Handelns, sondern bricht plötzlich herein. 

So wie das Leid Hiobs, nur weil Gott mit dem Teufel wettet. Diese biblische Gestalt stand für weitere Erkundungen im Mittelpunkt. Wie lässt sich einem solchen willkürlichen Gott vertrauen? Wie lässt sich bei dieser Verhüllung mit ihm in Kontakt bleiben? Erst nach langen Kapiteln voller Monologe geschieht wieder Resonanz zwischen Hiob und Gott. Oder: Was hat unsere Existenz zwischen Geworfen- und Getragen-Sein mit Gott zu tun?

Selbst auf diese Spannung gibt es wohl nur unverfügbare Antworten. Die Sehnsucht nach dem Überschreiten der irdischen Begrenzung bleibt. Dazu noch eine Zutat der Dichterin Kaléko. „Die Wunde in dir halte wacht / Unter dem Dach im Einstweilen.“

Das Ev. Bildungswerk lädt zur Methodenwerkstatt „Bis auf die Haut“ – Stoffe als Erinnerungsanker für biografisches Arbeiten“ am 22. Oktober im Nürnberger eckstein an. Noch kurzfristige Anmeldung unter Tel. 0911/214-2131 oder E-Mail bildungswerk.nuernberg@elkb.de möglich.

=> Mehr zur Biografiearbeit im Ev. Bildungswerk:

https://www.feb-nuernberg.de