Mein Erlöser lebt!

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

All meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen!  Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. 

aus Hiob 19, 19–27

Da ist die Frau, die viele Jahre lang ihren Mann pflegte. Letztes Jahr starb er. Nun ist sie allein in der Wohnung. Kinder haben sie nicht, Bekannte wagt sie wegen der Einschränkungen nicht zu treffen. Manchmal begegnen ihr im Treppenhaus vor ihrer Wohnung Nachbarn, mit denen redet sie kurz, aber das ist alles an Kontakt, den sie im Moment hat, viel zu wenig. Sie fühlt sich einsam. Früher kam sie gerne zum Seniorenfrühstück in die Kirchengemeinde, sie half auch bei den Vorbereitungen am Tag vorher und während dem Frühstück. Auch zum Seniorenkreis einmal im Monat kam sie ins Gemeindehaus. Jetzt darf das alles nicht mehr stattfinden. Es fehlt ihr. Die festen Termine in der Woche, aber vor allem die Gespräche, die Anregungen, die witzigen Bemerkungen untereinander, auch die geschmückten Tische und sogar das Geschirrklappern. 

Aber hat nicht jeder seine Einsamkeiten? Selbst dann, wenn ich mehr Kontakte habe? Interessen, die ich nicht teilen kann? Wünsche, mit denen ich mich unverstanden fühle? Erinnerungen, die ich nur mit mir ausmache?

Hiob hat alles verloren, erst seine Tiere, seinen Wohlstand, dann seine Kinder, schließlich seine Gesundheit. Nun lassen ihn auch noch seine Freunde hängen. Warum haben die kein Mitleid! Dabei war Hiob so eng mit Gott. So reich fühlte er sich beschenkt. Und jetzt sagen seine Freunde: „Du hast dich schuldig gemacht. Deswegen bestraft dich Gott.“ Aber er hat doch nichts falsch gemacht, das weiß er sicher. Wie kann das alles sein?

Mitten in allem Kummer wechselt plötzlich die Stimmung. Hiob ruft aus: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Woher hat er diese Gewissheit, ist es eine plötzliche Eingebung? Oder erinnert er sich an früher, an den Erlöser, der ihm geholfen hat? Oder denkt er an die Geschichte, die er als Jude von Kindheit an immer wieder hörte: als die Israeliten in Ägypten wie Sklaven arbeiten mussten, und dann Gott ihnen die Fesseln löste und sie durch das Schilfmeer in die Freiheit führte? 

Wie ein Himmelsanker kommt Hiob der Gedanke: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Das gibt ihm Halt, daran kann er sich festhalten. Das gibt ihm Kraft. Natürlich hat Gott ihn nicht bestraft, sondern stand an seiner Seite in der schweren Zeit. Am Ende der Geschichte wird Hiob neu beschenkt. Er bekommt wieder Familie und Wohlstand. Er betet sogar für seine Freunde, die Besserwisser. Für Hiob wird ein Neustart ins Glück möglich.

Gott bestraft mich nicht. Das ist die Botschaft der Geschichte von Hiob. Gott heilt mich und schenkt Freude. Gott ist treu. Er will, dass es mir gut geht, und dass ich frei und gelöst lebe. Selbst da, wo ich denke, ich bin ganz einsam, legt Gott seinen Arm um mich. 

Und er schickt mir andere Menschen. Denn wie gut tut mir in schweren Zeiten jemand, der einfach da ist. Der sich nicht abwendet oder alles besser weiß, sondern einfach zuhört. Viele Menschen sind heute einsam. Wegen Corona noch mehr als sonst. Unsere Frau freut sich so, als eine Mitarbeiterin aus dem Team des Seniorenfrühstücks sie anruft. Sie fragt, wie es ihr geht, und wann sie sich einmal treffen könnten. Vielleicht für einen Besuch des Gottesdienstes am Sonntag oder einen Spaziergang. Für beides verabredet sie sich sehr gerne.

Dekanin Doris Sperber-Hartmann, Augsburg Region Süd/Ost