Wer ist’s? Wer bin ich?

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über das Erschrecken vor Fehlbarkeit

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist‘s?

Johannes 13, 21–30

Liebe, Verrat, Betrug, Enttäuschung, Angst und Aufregung. In diesen Versen stecken so viele Emotionen, wie in einer Folge „Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘‘. Der Regisseur dieser Szene – Johannes – hat wirklich Ahnung von Inszenierung und Dramaturgie. Jesus und seine Freunde sitzen zusammen. Bei Dunkelheit und Kerzenschein. Die Gesichter und ihr Ausdruck sind wahrscheinlich nur schwer zu erkennen. Die Stimmung aber ist zu spüren. Der dramatische Abschied steht bevor. Jesus ist mehr als ein Freund, der den Freundeskreis verlässt. Er ist Vertrauter, Vorbild, Lehrer. Er ist Gott. Er hält den Freundeskreis zusammen, er gibt ihnen ein gemeinsames Ziel. Das ist nicht nur eine Zweckgemeinschaft. Da ist Nähe, Vertrauen, Zärtlichkeit. 

Und mitten in dieser intimen Stimmung spricht Jesus von Verrat. In diesem Freundeskreis ist ein Verräter, der Jesus nicht die Treue hält, wenn es darauf ankommt. Aus Eifersucht auf den Jünger, den Jesus besonders lieb hatte? Aus Neid? Aus Machtstreben? Aus Versehen? Eigentlich hat er nichts verraten, was nicht schon offensichtlich war: Jesus ist der Sohn Gottes. Er heilt, befreit und liebt – bis in den Tod. Aber er bricht mit einem Schlag die Verbindungen. 

Die Freunde schauen sich in die Augen. Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Wer ist’s? Wer bin ich? Keiner kann ausschließen, dass er alles richtig gemacht hat. Keiner weiß, ob er immer den richtigen Ton angeschlagen hat. Alles, was zählt ist Liebe und die wurde verraten.

Ich sitze mit am Tisch an diesem emotionsgeladenen Abend. Und ich sitze zwischen den Stühlen des Lieblingsjüngers und Judas. Wer bin ich? Ich kann liebevoll sein, loyal, fürsorglich, kann die richtigen Worte finden. Ich kann aber auch ganz anders. Ich kann mich zurückziehen, verletzen. Ich drehe mich in meiner kleinen Welt lieber um mich selbst, als mich mit den Problemen anderer abzugeben. Ich rede über jemanden, anstatt mit ihm. 

Ich sitze zwischen den Stühlen des Lieblingsjüngers und Judas – am Tisch meiner Familie, meiner Freunde, in der Arbeit und bei Gott. Mit dieser Spannung lebe ich. Ich verbringe gesellige und unterhaltsame Abende am Tisch, aber auch ernüchternde und mühsame. Hin und wieder verlasse ich den Tisch und gehe in die Nacht – wie Judas. Und ich fühle, was er vielleicht gefühlt hat: Scham, Wut, Trotz, Stolz. 

Die Gesellschaft am Tisch meiner Freunde, meiner Familie und meiner Arbeit verändert sich. Sie wird größer und kleiner. Manchmal verlasse ich den Tisch und kehre nicht zurück – freiwillig oder mit verletzten Gefühlen. Oder ich würde gerne wieder Platz nehmen, zeigen wer ich bin, aber es steht kein Stuhl mehr für mich bereit. 

Judas verlässt den Tisch. Wie es mit ihm weitergeht wird im Neuen Testament ganz unterschiedlich erzählt. Johannes lässt Judas nicht zurück an den Tisch kommen. 

Für mich ist das Relief einer Klosterkirche aus dem 12. Jahrhundert in Nordfrankreich das Ende der Geschichte von Judas und ein Trost für mich. Da ist Jesus zu sehen. Er trägt den toten Judas liebevoll auf seinen Schultern. Er bringt ihn nach Hause – zurück an seinen Platz am Tisch des Herrn, wo auch für mich ein Stuhl steht.

Pfarrerin Claudia Buchner, Bad Reichenhall