Enge Gemeinschaft trotzt Geldsorgen

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Das Amsterdamer Gemeindezentrum während der Renovierung. Foto: DEG
Das Amsterdamer Gemeindezentrum während der Renovierung. Foto: DEG

Deutsche Evangelische Gemeinde in Amsterdam hofft auf neue Wege in die Zukunft

Die 94-Jährige in einem Amsterdamer Pflegeheim stammt ursprünglich aus Deutschland. Natürlich spricht sie fließend Holländisch, da sie beinahe ihr ganzes Leben in den Niederlanden verbracht hat. Vielmehr: Sie sprach es. Denn die Demenz brachte auch das Vergessen der Sprache. Es bleibt ihr nur noch die Muttersprache Deutsch. Niemand im Altenheim kann sich mit ihr verständigen. Ihre Kinder leben längst wieder in Deutschland – weit entfernt von den Niederlanden. Da wandte sich das Pflegepersonal an die Deutsche Evangelische Gemeinde vor Ort.

So berichtet es Michael van der Werf bei intensiven Telefonaten mit dem Evangelischen Sonntagsblatt. Als Vorsitzender des Kirchenrates ist er bei der Deutschen Evangelischen Gemeinde (DEG) engagiert. Ursprünglich stammt er aus Kornburg bei Nürnberg. Er ist aber in Amsterdam verheiratet. „Drei unserer acht Kirchenratsmitglieder kommen aus Franken.“ Das praktische Tun läge gerade ihnen am Herzen – wie auch die Pfarrerin Janina Glienicke ihnen bestätigt hätte, so van der Werf schmunzelnd.

Und das ist auch dringend nötig. Die Pfarrerin ist nicht nur für den Großraum Amsterdam zuständig, sondern auch noch für Rotterdam. Abgesehen von Den Haag, wo ein weiterer deutscher Pfarrer Dienst tut, praktisch für das ganze Land.

Digitalisierung überwindet weite Wege

So haben die Gemeindemitglieder Anfahrtswege von bis zu 250 Kilometern. Besonders schwierig ist es für die Konfirmanden, erklärt van der Werf. Im Extremfall müssen sie bereits am Freitagabend bei anderen Gemeindemitgliedern auf halbem Weg übernachten, um am Samstag am Konfi-Unterricht teilnehmen zu können. In Corona-Zeiten sind diese Aktivitäten jetzt auf Online-Treffen umgestellt. 

Besonders wichtig ist es der Gemeinde, Deutschunterricht gerade für die jüngeren Menschen anzubieten. Sie sollen es nicht verlernen – da Deutschunterricht in den Niederlanden kaum noch stattfindet. Da fehlen gar schon Lehrende. Auch unter den zwölf Konfirmanden gäbe es drei völlig verschiedene Niveaustufen bei den Deutschkenntnissen. 

Und Michael van der Werf telefoniert nun oft stundenlang, um alle Kontakte halten zu können. Er ist neben seinem Engagement im Kirchenrat als Prädikant ausgebildet. So kann er manche liturgischen Aufgaben übernehmen. 

Gerade die älteren Gemeindemitglieder seien eine Versorgung durch Laien gewöhnt. Nach dem Krieg hatte die deutsche Besatzung auch diese kirchlichen Bindungen zerstört. Gottesdienste wurden in Privathäusern von Laien gehalten – oft im Verborgenen. Auch die 94-jährige Pflegeheimbewohnerin hat diese Zeit miterlebt. Erst 1953 begann der Wiederaufbau. 

Und dies, obwohl die deutschsprachigen evangelischen Gottesdienste in Amsterdam auf eine 400-jährige Geschichte zurückblicken. Zuerst kamen deutsche Glaubensflüchtlinge und Kaufleute mit ihren Familien zusammen. Lange gab es parallel einen lutherischen und einen reformierten Pfarrer.

Angst um das Überleben

An solch einen Luxus kann die deutsche Gemeinschaft nur mit Wehmut zurückdenken. Die DEG bekommt keine öffentlichen Mittel. Von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erhalten sie einen Zuschuss von 30.000 Euro für Amsterdam und Rotterdam zusammen. Davon will auch Pfarrgehalt gezahlt sein. Von einer Sekretärin oder Mesnerin lässt sich nur träumen. Ansonsten finanziert sich die Gemeinde durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Erlöse von Veranstaltungen, Flohmärkten oder auch der Vermietung der Gemeinderäume. 

Solche Aktivitäten fielen natürlich auch im Corona-Jahr in den Niederlanden weitestgehend weg – ebenso wie Kollektensammlungen, da die Gottesdienste ausfallen mussten. Dafür stand eine grundlegende Renovierung des Gemeindezentrums an: Die Fensterrahmen waren vom Holzwurm zerfressen, es regnete an mehreren Stellen durch das Dach. Die bisherigen Sparguthaben habe dies fast gänzlich aufgefressen. 

Geldhahn zugedreht?

Hinzu kommt, dass die EKD-Synode im Herbst beschloss, die Zuschüsse für die Auslandsgemeinden massiv zu senken. Noch stehe da für ihre Gemeinde kein Betrag im Raum, so van der Werf, aber Angst macht sich breit. Auch bei Telefonaten mit Gemeindemitgliedern gibt es immer wieder die besorgte Nachfrage: Wie geht es weiter?

Nach niederländischem Recht, dem auch die Gemeinde unterworfen ist, haften die Mitglieder des Kirchenrates unbeschränkt mit ihrem Privatvermögen, wenn ihr Haushalt nicht mehr ausgeglichen ist. Also das Licht ausknipsen, bevor es zu spät ist? Mitte 2022 laufe die Entsendung der jetzigen Pfarrerin aus. Ist dann überhaupt noch an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu denken? Zumal viele Landeskirchen in Deutschland immer weniger über eine Entsendung von Amtsinhabern begeistert sind. Auch hier macht sich schon der Stellenmangel bemerkbar.

Enge Gemeinschaft in säkularer Gesellschaft

Rund 150 Haushalte sind Mitglied der Amsterdamer Gemeinde. Katholische Deutsche dürfen rein rechtlich nur zu den Freunden der Kirche gehören. Einige ständen ihr dennoch nahe, da es keine deutsche katholische Gemeinde vor Ort gäbe, so van der Werf. Und junge Menschen dürfen in sie erst eintreten, wenn sie volljährig sind. Also sind Konfis nur über ihre Familien Mitglied – oder dann erst später. Doch in den Gottesdiensten in der Vor-Corona-Zeit trafen sich regelmäßig 40 bis 45 Personen, hat der Vorsitzende des Kirchenrats gezählt. Intensive Gemeinschaft ist ihnen wichtig. Kann das einfach wegfallen? 

Denn die Gesellschaft vor Ort ist extrem säkular. Michael van der Werf schätzt, dass nur noch 15 Prozent der gesamten Amsterdamer Bevölkerung sich überhaupt einer Weltreligion zugehörig fühlten. Und es fünf Prozent Protestanten im einstigen calvinistischen Kernland gäbe.

Auch die Gemeindeverwaltungen melden nicht weiter, ob Landsleute neu aus Deutschland zugezogen sind. Solche Meldungen gäbe es generell nicht in den Niederlanden. Auch Zeitungen seien dort am religiösen Leben nicht interessiert. Schließlich spielt religiöses Leben kaum eine Rolle. Es bleibt nur die direkte Ansprache oder der Kontakt über die Homepage. Noch vor Corona legte die Gemeinde Info-Postkarten etwa beim Deutschen Bäcker in Amsterdam aus. Sieben der zwölf aktuellen Konfis nahmen so den Kontakt auf. 

Fast schon gut, dass die 94-jährige Heimbewohnerin von all den Sorgen nichts mehr mitbekommt. Doch wer wird sich in Zukunft um sie und andere kümmern? Viele Gemeindemitglieder fühlten sich erst wieder in den Niederlanden der Kirche verbunden – und traten bei der Rückkehr nach Deutschland dort wieder in sie ein.

Mehr Informationen auf Deutsch unter https://www.deg-amsterdam.nl