„Anna hat das Leben unendlich bereichert“

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Anni Stiegler. Foto: Privat

Anni Stiegler verfasste Roman über die Herausforderungen mit der behinderten Tochter

Sie wird ungewollt schwanger – und schenkt dann noch einer schwer behinderten Tochter das Leben. Die Münchnerin Anni Stiegler, 1945 geboren, erlebt als junge Frau mit gerade einmal 25 Jahren eine gänzlich unerwartete Herausforderung. 

Zunächst einmal heiratet sie den zukünftigen Vater ihres Kindes, obwohl sie ihn kaum kennt. Zusammen übernehmen sie die Gaststätte ihrer Eltern im Rheinland. Doch auch er wird seiner Verantwortung gerecht und stellt sich der ungewollten Aufgabe. Er übernimmt den Ausschank der Gaststätte. Bald ist er als Wirt beliebt. Ihr Leben könnte nun in ruhigen Bahnen verlaufen.

Die Tochter

Aber dann wird die Tochter geboren. Sie ist schwerst mehrfachbehindert. Erst nach und nach erfahren die Eltern das Ausmaß der Gehirnschädigung ihrer Tochter. Es verlangt die gesamte Aufmerksamkeit der Mutter, um sie zu pflegen. Sie bekommt nächtliche Panikattacken. Schließlich will der Vater wieder zurück nach München. Vier Jahre später erblickt dann ein gesunder Sohn das Licht der Welt. 

Verarbeitet hat Anni Stiegler ihre Lebensgeschichte nun in einem Roman, der auf ihren Erlebnissen fußt. Um Abstand zu gewinnen  hat Anni Stiegler den Familienmitgliedern andere Namen gegeben: Die Mutter in dem Roman heißt Karla, die behinderte Tochter Anna, der Vater Wolfram und der Bruder Florian. 

Doch die personale Erzählperspektive bleibt bestehen. Sie lässt die Leserinnen und Leser unmittelbar Anteil nehmen an dem Geschehen aus dem Blickwinkel der Mutter. Karlas Leben ist geprägt von der Erziehung der Kinder und der Sorge um die Tochter. In dem Roman „geht es genauso um das Überleben eines Kindes und die unverzagte Liebe einer Mutter, auf der Suche nach einem der Persönlichkeit des Kindes wahrhaft entsprechenden Weg“, erklärt Anni Stiegler.

Anna wächst. Aber die Epilepsie verschlimmert sich. Weitere ungeahnte gesundheitliche Beeinträchtigungen kommen hinzu. Ihre Entwicklung macht zunächst kaum Fort- schritte. Karla sucht einen Facharzt nach dem anderen auf. Es gibt keine Hilfe.

Doch die Mutter gibt nicht auf. „Erzählt wird von der wachsamen reflektierten Begleitung eines Mädchens, das zeitlebens kein Wort sprechen kann. Gezeigt wird das Ringen einer Frau nach dem Besten für sich und ihre Familie“, so beschreibt Anni Stiegler ihr Anliegen. Und weiter: „Es geht um das Scheitern, um Zweifel, um Schuldgefühle und schließlich auch um die Erkenntnis, dass das Glück nur im alltäglichen Erleben entdeckt werden will.“

Das Leben bejahen

Nach unablässigen Bemühungen hat Anna doch noch Laufen und Rollstuhlfahren gelernt. Letzteres zuerst „und am liebsten rückwärts“. Unter dem Arbeitstitel „Rückwärts ist auch ein Weg“ erzählt Anni Stiegler in diesem noch unveröffentlichten Roman, wie Entwicklung trotz schmerzlich spürbarer Beschränkungen gelingen kann. 

Sie schildert in ganz unterschiedlichen Szenen krisenhafte, aber auch besondere glückliche Augenblicke. Ihre Texte sind der Versuch, Sinn und Lebensglück in den alltäglichsten Augenblicken aufzuspüren. Ihr Problemkind setzt der Mutter enge Grenzen. Und es erweitert dennoch ihre Horizonte fundamental. 

Zunächst lässt ihr die Pflege ihrer behinderten Tochter kaum Raum für berufliche oder auch nur private Interessen. Dabei hatte sie sich zuvor schon als Sekretärin bewährt. Zum Glück wächst Wolfram mit seiner Verantwortung als Familienvater. Auf seine Art versteht er es, seine Tochter in das Familienleben einzubeziehen. Nun wird schon der Bruder Florian, dessen Entwicklung nebenher und unkompliziert verläuft, eingeschult. 

Trotz vieler Widerstände findet Karla auch endlich einen Schulplatz für Anna. Allmählich gelingt es ihr, sich selbst Freiräume zu schaffen – ohne ihre Tochter aus den Augen zu verlieren. Sie besucht eine Abendschule, studiert Personalwesen, Hauswirtschaft und Vereinsrecht. Sie legt die abschließenden Prüfungen ab, obwohl sie sich natürlich nicht ruhig darauf vorbereiten kann. 

Karla lässt sich nicht unterkriegen

Anschließend engagiert sich Karla ehrenamtlich. Sie übernimmt Aufgaben in sozialen Einrichtungen und Ausschüssen. Und sie gründet einen Verein für schwerst mehrfach behinderte Erwachsene, um ein Heim für erwachsene behinderte Menschen entstehen zu lassen. Als Geschäftsführerin dieses sozialen Unternehmens treibt Karla unablässig dieses ehrgeizige Ziel voran.

Endlich kann sie etwas tun. Es gibt eine Menge Hürden zu überwinden. Und fast hätte sie es geschafft. Aber sie hat nicht mit Anfeindungen der Kolleginnen gerechnet. Da zieht sie sich von ihrer Aufgabe zurück. Doch: Schließlich wird das Heim gebaut.

Anna versteht es allmählich, sich durch Gesten und Mimik mitzuteilen. Mit dem ihr eigenen Gespür für die Gefühle anderer umarmt und tröstet sie. Immer noch kann sie kein Wort sprechen. Nach Einschätzung der Ärzte soll ihr nur ein kurzes Leben vergönnt sein. Doch es gelingt ihr, den Rahmen dieser Begrenzungen zu sprengen. „Sie lehrt Karla, wie man gelassen im Hier und Jetzt den Augenblick lebt. Karla lernt, mit unvermeidlichen Rückschritten fertig zu werden“, erklärt Anni Stiegler. 

Vor ihrem 37. Geburtstag stirbt Anna. „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele“ (aus Psalm 139). Das lässt Karla auf Annas Grabstein schreiben. Der Bruder sagt: „Durch Anna habe ich erlebt, was bedingungslose Liebe bedeutet.“ Und der Vater ergänzt: „Anna hat mein Leben bereichert, durch sie bin ich erst zu dem geworden, was ich bin.“

Vergessene Träume verwirklicht

Nach dem Tod ihrer Tochter 2007 besinnt sich Anni Stiegler, die heute in Bernau am Chiemsee lebt, auf ihre vergessenen Träume. Sie bewirbt sich um die Teilnahme an einem Jahreslehrgang für literarisches Schreiben vom Schriftstellerverband an der Volkshochschule in München. Sie erhält eine Zusage. Es entstehen die ersten Kurzgeschichten. In der Schreibwerkstatt von Ursula Haas verfasst sie weitere Erzählungen. Ermutigt und inspiriert von Anna Platsch folgen 2010 lyrische Texte für die Arche bei der Landesgartenschau in Rosenheim.

Doch ihr eigentliches Anliegen ist dieser Roman „Rückwärts ist auch ein Weg“ über ihre Lebensreise und ihre Tochter. Inzwischen ist er vollendet. Auf der folgenden Seite bringt das Sonntagsblatt eine Szene voller Lebenslust. Anni Stiegler schreibt weiter.