Vom Umgang indigener Völker mit der Erde: Nützlicher Rohstoff oder der Grund zum Leben?
Indigene Völker wissen: Distanziert sich die Menschheit von der Erde und wenden sich von ihr ab, wird ein wichtiges – aus ihrer Sicht – heiliges Band zerstört.
Ich fahre an riesigen Sojafeldern vorbei, im Süden Brasiliens, in Richtung argentinische Grenze. „Durch die Kolonialisierung wird hier intensiver Ackerbau betrieben und der ursprüngliche Wald wurde erst anfang des 20. Jahrhunderts gerodet“, erklärt meine Begleiterin Noeli Falcalde. Sie ist Mitarbeiterin bei COMIN, dem Indianermissionsrat der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Geschickt lenkt sie nach einer Weile das Auto auf eine nicht befestigte Straße. „Wir kommen jetzt gleich zu den Indigenen Völkern,“ erklärt sie, und schon ändert sich auch das Landschaftsbild. Statt der intensiven Ackerlandschaft kommen wir in eine Gegend, in der der Wald mit kleinen bebauten Ackerfeldern im Wechsel steht.
Angesichts der riesigen Monokulturen, die hinter uns liegen und der sie bewirtschaftenden Technik mache ich mir derweil meine Gedanken. Es ist beeindruckend, welche Technologien entwickelt wurden, die körperlich oder geistig anstrengende und zeitraubende Arbeiten in großem Maß erleichtern. Dabei hat aber der natürliche Zyklus und Lebensrhythmus an Bedeutung verloren. Wer den Boden bewirtschaftet, weiß, dass zahlreiche Lebewesen den Boden bevölkern. So leben in einer Handvoll fruchtbarer Erde bis zu fünf Milliarden Kleinstlebewesen, die zum Teil nur mit dem Mikroskop sichtbar sind. Es ist ein hochempfindliches Zusammenspiel, das die Gesundheit, Fruchtbarkeit und Lebendigkeit des Bodens fördert.
Die Erde wird aber in der Kultur der Industriestaaten nicht mehr als komplexes Lebewesen verstanden. Bodenschätze, Pflanzen und Tiere wurden zu natürlichen, sachlichen, manipulierten und erforschten Hilfsmitteln degradiert. Die Industrieländer haben einen Weg eingeschlagen, der scheinbar unaufhaltsam und unumkehrbar auf eine Kultur und Zivilisation zuläuft, die die Erde kolonialisiert und die geprägt ist von Verstädterung, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Globalisierung und globaler Erwärmung.
Wurde früher in ökologischen Kreisläufen gedacht, ist Agrarproduktion heute oft ein Exportgeschäft. Zurück bleiben in den Böden Europas die Hinterlassenschaften der Tiere, die zu überhöhten Stickstoffeinträgen in der Erde führen. Diese Entfremdung von der Erde widerspricht dem eigentlichen Wesen des Menschen, davon sind zumindest die indigenen Stammesgesellschaften überzeugt.
Weisheit der Indigenen
Ohne diese romantisieren zu wollen oder sich Bilder vom verlorenen Paradies bzw. nostalgische Vorstellungen nach dem Motto „was hätte sein können, aber leider nicht war“ vorzustellen, fasziniert die Weisheit der indigenen Völker. Ob es die bolivianischen Aymará oder die Guarani in Brasilien sind: In all diesen Kulturen spricht man von der Abya Yala, der Pacha Mama, der Mutter der Erde, von der wir alle abstammen, die uns am Leben erhält, die Krankheiten heilen kann und die uns an unserem Lebensende wieder zurücknimmt.
In der indigenen Weltanschauung wird nicht zwischen Natur und Kultur, Gesellschaft, Umwelt oder Übernatürlichem unterschieden. Alle Lebewesen, die menschliche Natur eingeschlossen, sind miteinander verbunden: Das Wesen der Menschen, der Pflanzen und der Tiere ist auf Beziehung angelegt und voneinander abhängig, und damit immer den Veränderungen ausgeliefert. Für westliche Ohren mag dies sehr fremd klingen. Aber die Weltanschauung der indigenen Kulturen prägt die Art und Weise, wie sich die Menschen zu dem verhalten, was wir „Natur“ nennen.
Bei meiner Fahrt zu den Indigenen passieren wir weiter eine Kleinteilige Felderlandschaft. „In ihrer Lebensweise haben sie eine Form gefunden, die es möglich macht, dass die natürlichen Ressourcen erhalten bleiben“, sagt Jandira Keppi. Seit mehr als 30 Jahren ist sie Expertin für indigene Fragen. Sie fasst in einem Satz das indigene Naturverständnis zusammen: „Im Verständnis der Indigenen Völker ist Natur nicht etwas anderes als der Mensch. Alles hängt zusammen, und ihr eigenes Leben steht in der Abhängigkeit mit der Fauna und Flora. Es ist eine integrale Vision des Lebens, der Menschen mit der Natur. Deshalb sprechen sie von der Mitwelt.“
Überzeugung der Bibel
Diese, die verschiedenen Kulturen verbindende Überzeugung, entspricht der Vorstellung des zweiten biblischen Schöpfungsberichts, wonach Gott den Menschen aus Erde erschafft, um ihm dann den Lebens-odem einzuhauchen: Die Erde, aus der der Mensch geschaffen wurde, ist nicht irgendeine Art von Boden. Sie ist adamah, die für Ackerbau und Pflanzen gedachte Erde. Adam ist aus solcher adamah, jenen 12 bis 15 Zentimeter fruchtbaren und lebendigen Bodens, geschaffen worden. Die Menschen sind also Teil dieser belebten Humusschicht, belebt durch den Atem Gottes. So hat Adam eine direkte Beziehung zur Erde. Um menschlich zu bleiben, darf diese Beziehung nicht gestört und noch weniger unterbrochen werden. Der Atem Gottes schafft die Verbindung zwischen Gott und Erde und der Mensch ist ein Glied in dieser Verbindungskette zwischen Gott und Erde. Im Psalm 104 werden die Tiere ausdrücklich in die Beziehung mit Gott hineingenommen: „Mensch und Tier halten Ausschau nach dir. Schickst du deinen Lebens-atem aus, dann wird wieder neues Leben geboren. So machst du das Gesicht der Erde neu.“ (Psalm 104,27a und 30)
Aus Erde bist du gemacht
Dieses Band zwischen Erde und Atem Gottes ist die Grundlage für die Menschlichkeit – und aus der kosmologischen Perspektive der Indigenen Völker – gilt dies auch für die Tiere. Wenn Gott den Lebens-atem nimmt, kehrt der aus Erde geschaffene Körper wieder dorthin zurück. In diesem Sinne ist die Stelle im Jakobusbrief 2,26 zu verstehen, dass „der Leib ohne Geist, ohne Atem oder göttlichen ruah tot ist“. Der Psalmist schreibt, wenn jemand stirbt: „Wenn ihnen der Lebensatem ausgeht, dann kehren sie wieder zur Erde zurück.“ (Psalm 146,4). Die rituelle Formel bei Beerdigungen, „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aus Erde bist du gemacht, zur Erde kehrst du zurück“, bringt es uns immer wieder ins Gedächtnis.
Im Prediger Salomo 12,7 steht geschrieben: Wenn jemand stirbt, „geht der Geist wieder zu Gott zurück, der ihn gegeben hat“. Darum sagt der Volksmund, dass die verstorbene Person „bei Gott ist“, oder noch besser, „in Gott“ ist, zurück bei ihrem Ursprung.
Dieses Band bleibt auch unauslöschlich in einigen Sprachen erhalten: Die Menschen (humanos) sind aus Humus gemacht. Die menschliche (humane) Person ist ein Stück Humus, mit göttlichem Atem belebt. Wenn die Menschen sich von der Erde distanzieren und abwenden, wird dieses heilige Band zerstört. Einen Menschen zu töten bedeutet, die Erde zu verletzen. Die Erde zu verletzen bedeutet, Menschen zu töten. Der Humus (Erde) schreit wegen des Todes von Abel: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Die Erde öffnete ihren Mund, um deines Bruders Blut von deinen Händen zu empfangen“. (1. Mose 4,10f). Der Humus, also die Erde ist ebenso heilig wie das menschliche Leben. Nur in dieser heiligen Verbindung ist es denkbar, dass wir eine bleibende Zukunft haben.
Pfarrer i.R. Hans Zeller
Unser Autor war Referent für Lateinamerika bei Mission EineWelt und davor für viele Jahre Pfarrer in Brasilien.