Jahresreise zu uns selbst

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Editorial von Susanne Borée im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Zu Beginn der Adventszeit habe ich mein Keyboard entstaubt. Allzu lange dämmerte es auf dem Dachboden vor sich hin – mit einem weihnachtlichen Notenheft. Nun kann es endlich wieder aufwachen. 

In einem anderen Leben habe ich mal Klavier gespielt. Viel zu wenig ist davon geblieben. Unter uns: Meine Bemühungen sind noch nicht wieder so weit gediehen, dass sie meine Umwelt erfreuen würden. Aber zum Glück hat auch dies Instrument einen Anschluss für Kopfhörer. So kann ich selbst diesen Tonfolgen nachspüren. Sobald meine Gedanken aber wandern und nicht mehr auf die Melodie zentriert sind, stolpern meine Finger.

Etwa, wenn ich darüber nachdenken, was ich alles in diesem Jahr nicht gemacht habe: Reisepläne mussten wir mehr als einmal stornieren. Auch jetzt in der Weihnachtszeit setzen wir uns lieber nicht in Züge. Da wahrscheinlich viele Menschen ähnlich denken, besteht wiederum die Gefahr, dass die Staus allerorten steigen werden. Und dann noch mit der Gefahr, an unseren Zielen Ansteckung zu erfahren oder andere anzustecken. Brauchen wir das wirklich? 

Wie Begegnungen neue Bedeutung erlangten

Insgesamt erfuhren Begegnungen eine neue Dimension. Ich erfuhr sie als intensiver und wertvoller – auch wenn Telefonate und digitale Zusammenkünfte sie ersetzten. Viele Menschen erlebten dies als neue Möglichkeit – andere als billigen Ersatz. 

Allen ist wohl gemeinsam: Dieses Jahr erlebten wir als eine ganz besondere Reise – zu uns selbst! Was machen all die Ängste und Unsicherheiten, die Einsamkeit und die bohrenden Gedankengänge in unserem Kopf mit uns? Entdeckten wir durch sie hindurch alte, neue Töne, die sich unbeholfen wieder mit unseren Fingern zu Melodien formen lassen?

„Dass wir am 1. Januar 2021 aufwachen und feststellen, dass 2020 nur ein böser Traum war.“ Diesen Neujahrwunsch habe ich nun mehr als einmal gesehen. Und damit all das Neue, das in diesem Jahr auf seine Entdeckung wartete, ebenso wenig wertschätzen? 

„Das schreib dir in dein Herze, / du hochbetrübtes Heer, / bei denen Gram und Schmerze / sich häuft je mehr und mehr; / seid unverzagt, ihr habet / die Hilfe vor der Tür; / der eure Herzen labet / und tröstet, steht allhier.“ So heißt es in der 6. Strophe des Liedes „Wie soll ich dich empfangen?“ Erst jetzt kommen wir wieder bis dahin – allein schon, um unsere Finger wieder an uralte Tonfolgen zu gewöhnen.